Januar 2010, in den Umfragen kommen SPD, Grüne und Linke zusammen auf 47 Prozent. Die Sozialdemokraten sind zwar doppelt so stark wie die beiden kleineren rot-grünen Parteien. Doch von einer Erholung nach der historischen Wahlpleite kann wirklich nicht die Rede sein. Sigmar Gabriels Versprechen, die SPD zu erneuern, klingt noch nicht so hohl wie es zwölf Monate später der Fall sein wird. Die Zeit in der Opposition hat gerade erst begonnen - und vom gemeinsamen Gegner Schwarz-Gelb werden die drei Parteien des „linken Lagers“ zwar nicht auf der gleichen Bahn, aber immerhin im selben Orbit gehalten. Es steht ein Jahr mit nur einer Landtagswahl bevor, wenn man wirklich über Politik reden wollte, über einen sozial-ökologischen Umbau als Lehre aus der Dreifachkrise, über Gemeinsamkeiten und Unterschiede, dann jetzt.
Dezember 2010, in den Umfragen kommen SPD und Grüne auch ohne die Linke auf 47 Prozent. Die Sozialdemokraten sind längst nicht mehr das unangefochtene Schwergewicht im Mitte-Links-Lager, noch immer hat sich die Partei nicht von ihrer Wahlniederlage im Herbst 2009 erholt. Sigmar Gabriel ist im Urlaub und Frank-Walter Steinmeier redet erst gar nicht von Erneuerung. Im rot-rot-grünen Orbit ist sich jeder selbst der nächste, SPD und Grüne tun sich mit ihrer neu erweckten privilegierten Partnerschaft schwer, die Linkspartei lässt man spüren, dass man sie zurzeit nicht braucht und später gar nicht will. Es steht ein Jahr mit mindestens sieben Landtagswahlen bevor und für eine parteiübergreifende Diskussion über einen sozial-ökologischen Umbau brechen jetzt erst recht schlechte Zeiten an.
Ob man 2010, das Jahr mit dieser für die Mitte-Links-Debatte so symbolisch aufgeladenen Zahl, als ein vertanes ansieht, hängt davon ab, mit welchen Erwartungen man es begonnen hat. Im Rückblick erscheint manche Einschätzung des Veränderungspotenzials in den Parteien als zu optimistisch und erweist sich rot-rot-grüner Pessimismus als treffender. Vom Rechthaben allerdings geht nicht gerade viel Veränderung aus, und manche aus aktuellen Konstellationen entspringende Dynamik war auch nicht gerade leicht vorhersehbar.
Oslo Gruppe und Solidarische Moderne
Schon im Januar hatten sich mit der Oslo-Gruppe und dem Institut Solidarische Moderne zwei Initiativen zu Erkennen gegeben, deren Akteure es jedenfalls für sinnvoll hielten, die Diskussion über eine sozial-ökologische Politik organisierter als seit dem 1997 eingeschlafenen „ersten Crossover“ zu führen. Es ging um die Chancen und Grenzen einer rot-rot-grünen Kooperation ebenso wie um die Frage gesellschaftlicher Hegemonie, ohne die eine solche Orientierung allenfalls zum Regierungswechsel, nicht aber zu einer wirklich anderen Politik werden würde. Anfangs war es leicht, damit Aufmerksamkeit in den Medien zu erzeugen, später wurde das weit schwieriger: die Mühen der Ebenen des „zweiten Crossover“ erwiesen sich als steinig, unter den Bedingungen von Mediendemokratie und Parteienkonkurrenz erwies es sich einmal mehr, dass inhaltliche Debatten schwerer zu kommunizieren sind als politische Konflikte.
Der Schritt vom „Wir müssen mal reden“ zum organisierten Diskurs war dennoch kein Fehltritt. Bei der Oslo-Gruppe konzentriert er sich stärker auf das parlamentarisch Machbare und die rot-rot-grünen Parteien. Beim Institut Solidarische Moderne hat er stärker theoretischen Anspruch und will das intellektuelle sowie das außerparlamentarische Bewegungsspektrum stärker einbeziehen. Gerade bei dem Kreis um Katja Kipping, Andrea Ypsilanti und dem zu früh verstorbenen Hermann Scheer zeigte der Zustrom von Interessierten an, wie groß der Bedarf ist. Das ist aber nur die eine Seite, auf der anderen, den Apparaten und Machtpolitikern der Parteien, zeichnete sich schon frühzeitig ab, dass gar keine so große Nachfrage besteht.
Neue Abgrenzungsrituale
Im Frühjahr waren weder das Ergebnis der Wahlen in Nordrhein-Westfalen, das Sondierungsgespräche nach sich zog, die in eine zunächst gar nicht gewollte Tolerierung mündete, noch die von taktischen Überlegungen geprägte Debatte um den rot-grünen Präsidentschaftskandidaten Joachim Gauck und das Abstimmungsverhalten der Linken in der Bundesversammlung vorhersehbar. Für die öffentliche Wahrnehmung des praktizierten Crossover, zu dem sich im Laufe der Zeit noch das Projekt Linksreformismus gesellte, waren beide Ereignisse allerdings entscheidend: So sehr man im Institut oder der Oslo-Gruppe auch Gemeinsamkeiten erkannte und sich über Projekte zu verständigen begann, so wirkmächtiger waren die neuen Abgrenzungsrituale an den Spitzen von SPD, Grünen und Linken.
Man darf annehmen, dass sich daran im kommenden Jahr nichts ändert. Im Gegenteil, die politische Selbstblockade könnte sich sogar verfestigen - die Wahlkämpfe, das taktische Sondieren, die innerparteilichen Richtungsauseinandersetzungen werden ihren Beitrag dazu leisten. Auch wenn das Betonmischen nicht vom Crossover-Spektrum ausgeht, engt die Wirklichkeit eines Superwahljahrs die Debatten zwischen Parteien und darüber hinaus dennoch ein. Für Oslo-Gruppe, Institut Solidarische Moderne und andere wird es darauf ankommen, den Schwung der ersten Monate des Jahres 2010 zu halten und die Diskussion über Inhalte auf eine Weise nachhaltig werden zu lassen, die das bisher diskutierte nicht als historische Episode dem Vergessen anheimfallen lässt.
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Der „zweite Crossover“ im Freitag
Eine kleine, unvollständige Übersicht
Bereits im Frühjahr 2009 startete im Freitag eine kleine Debatte. Aufhänger war das Papier Die gute Gesellschaft von Jon Cruddas und Andrea Nahles. Über diese aus dem sozialdemokratischen Lager stammende Idee für ein „Projekt der Demokratischen Linken“ diskutierten dann Grüne und Linke. Nachdem Anfang 2010 die Oslo-Gruppe und das Institut Solidarische Moderne an die Öffentlichkeit gegangen waren, widmete der Freitag dem „zweiten Crossover“ einen Schwerpunkt - er knüpfte an manches aus den Vorjahren an, in denen die Zeitung stets ein Podium für rot-rot-grüne Diskussionen gewesen war.
Jon Cruddas/Andrea Nahles: Die gute Gesellschaft - hier
Andrea Nahles: Zeit für ein neues Projekt - hier
Sven Giegold über das Strategiepapier „Die gute Gesellschaft"- hier
WASG-Mitgründer Ralf Krämer zum Nahles-Cruddas-Papier - hier
Björn Böhning/Halina Wawzyniak: Rot-rote Reformen - hier
Robert Zion/Norbert Schepers: Wiederholung eines Grundfehlers - hier
Katja Kipping: „Der Staat ist doch kein Fahrrad“ - hier
Tom Strohschneider: Die neue Farbenlehre - hier
Michael Jäger: Wo liegt die linke Mitte? - hier
Im Frühsommer kam das Thema Rot-Rot-Grün auch auf die Bühne des Freitag-Salons. Die Debatte im Berliner Ballhaus Ost wurde von einer Reihe von Diskussionsbeiträgen im Freitag begleitet. Parallel dazu wuchs der Texte-Berg im gemeinsamen Mitte-Links-Projekt von Freitag und dem Progressiven Zentrum, wo über Leitbilder einer aufstiegsoffenen Gesellschaft sowie aktuelle Entwicklungen etwa in Berlin und Düsseldorf diskutiert wurden. Diskutiert wurde auch dann noch, als angesichts rot-grüner Umfragehochs das Selbstbewusstsein bei manchem durch die Decke ging. Und für skeptische Einschätzungen von außen war auch stets genug Raum.
Wolfgang Herzberg: Vorschlag für ein rot-rot-grünes Manifest - hier
Sven Giegold: Die Basis des Wandels - hier
Katja Kipping: Gut gemacht ist nicht gut genug - hier
Sascha Vogt: Der Job der Zukunft - hier
Werner Kindsmüller: Die Freiheit jenseits der Güter - hier
Projekt linke Mitte von Freitag und Progressivem Zentrum - hier
Tarek Al-Wazir: Will die Linkspartei eigentlich regieren? - hier
Jan Korte: Fischers Irrweg - hier
Klaus Ernst: Klingt das wirklich so verrückt? - hier
Jürgen Trittin: Jenseits der Illusionen - hier
Jürgen Reents: Die grüne Schuld(en)bremse - hier
Ulrike Winkelmann: „Die unbeliebteste aller Koalitionen“ - hier
Tom Strohschneider: Schwierige Beziehungskiste - hier
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