Das Erfurter Momentum

Landtagswahl Im Thüringer Wahlergebnis steckt eine Chance. Aber nur wenn man den alten, westdeutschen Tunnelblick ablegt, wird sie sichtbar
Ausgabe 44/2019
Linkssein ist nie einfach, vor allem nicht in Thüringen
Linkssein ist nie einfach, vor allem nicht in Thüringen

Foto: Imago Images/Jens Schicke

Ein neuer gesellschaftlicher Aufbruch, so stand es damals ganz am Schluss, könne die Mehrheit verändern. „Parteiförmige Politik allein kann das Vertrauen der Bevölkerung in ihre Demokratie nicht mehr hinreichend begründen“, deshalb – so ging es in jenem Text weiter – müsse sich „Grundlegendes“ verändern. Ein Bündnis für soziale Demokratie sei das Gebot der Stunde, man dürfe sich „den Wert von Visionen nicht ausreden“ lassen.

Was hier zitiert ist, wurde 1997 veröffentlicht und trägt den Namen von Thüringens Landeshauptstadt. Die „Erfurter Erklärung“ war eine der frühen Wortmeldungen aus der Zivilgesellschaft, die für die Überwindung von politischen Blockaden warb – weil man die Möglichkeit einer Kooperation zwischen Parteien voranbringen wollte, die dazu aus unterschiedlichsten Gründen nicht imstande waren. Die Vision bezog sich also nicht bloß auf Inhalte, sondern auf mögliche Formen, in denen diese zu politischer Wirksamkeit kommen können.

Einer der Unterzeichner damals hieß Bodo Ramelow. Seine rot-rot-grüne Koalition, die in Thüringen nun erst einmal weiterregieren dürfte, ist sozusagen ein Kind jener „Erfurter Erklärung“. Ein recht später Zögling, aber ein ganz gut geratener. 1997 war zu neuer Handlungsfähigkeit gedrängt worden, weil die Umstände danach riefen, weil soziale, ökologische und ökonomische Widersprüche sich immer weiter verschärften. 2019 ist das nicht anders – nur sind heute die schwierigen Herausforderungen zahlreicher geworden.

Allerdings erhöht der seit dem Antritt der Regierung unter Bodo Ramelow erreichte Stand auch das Ausgangsniveau, solche Probleme zu bewältigen. Ramelow könnte weiterregieren, gestützt auf eine rot-rot-grüne Basis, den Stil kooperativer Verfahren fortsetzend. Für konkrete Projekte wie die Eindämmung des Unterrichtsausfalls in den Schulen wären Stimmen aus FDP oder CDU nötig. Eine solche Minderheitslösung würde das Parlament stärker machen. Offene Abstimmungen abseits von koalitionärer Disziplin repolitisieren die Auseinandersetzung, heben den Inhalt vor die bloße Machtlogik. So könnten Räume geöffnet werden, in denen Möglichkeiten wachsen, die derzeit noch wie Unmöglichkeiten aussehen.

Das dauert, aber ein solcher Versuch wäre auch der Wirklichkeit angemessen: Die neue Unübersichtlichkeit in Parlamenten ist vor allem eines – neue Normalität. Dies anzuerkennen heißt nicht, auch die AfD als „normal“ hinzunehmen. Es sollte aber heißen, über Erneuerung der politischen Kultur, der öffentlichen Debatte nicht bloß zu reden, sondern dies einmal unter realen Bedingungen zu versuchen. Es geht um die drei Viertel, die nicht rechtsradikal gewählt haben und einen Anspruch darauf haben, dass man auch ihre Sorgen ernst nimmt. Es geht darum, hinter Lösungsvorschlägen unterschiedliche Milieus zu versammeln. Darum, eine neue Grundlage für die kooperative Bearbeitung widersprüchlicher Interessen zu schaffen.

Rot-Rot-Grün hat seit 2014 unter den limitierten Bedingungen von Landespolitik wichtige Schritte unternommen, zum Beispiel mehr Lehrer und Polizistinnen eingestellt. Diese Schritte mögen von links aus betrachtet oft zu klein erscheinen. Und doch gehört zu einer ehrlichen Bilanz, dass es keineswegs egal war, wer da regiert.

Nun haben sich die Bedingungen zur Fortsetzung des Weges gravierend verändert. Darauf muss, wer trotzdem vorankommen will, ebenfalls mit Veränderung reagieren. Das wird nicht leicht in einer Situation, in der etliche von einer „Mitte“ reden, um die Linkspartei auszuschließen. Es ist nicht leicht unter dem Donnerhall verbaler Ausfälle, in denen diese mit der AfD gleichgesetzt wird. Es ist zum Schreien, weil doch alle wissen, dass solcher extremismustheoretischer Unfug der Auseinandersetzung mit den Rechtsradikalen schadet, weil so deren Positionen verharmlost werden, um das Mindeste zu sagen.

Hinter den bizarren Rot-gleich-Braun-Äußerungen steckt nicht nur parteipolitisches Kalkül. Es geht nicht nur darum, CDU-Landeschef Mike Mohring von einer Kooperation mit der Linkspartei abzuhalten. Es zeigt sich hier auch ein alter, westdeutscher Tunnelblick, dem es nicht einfällt, dass aus dem Osten auch einmal etwas anderes als ein Problem kommen könnte, sogar eine demokratische Innovation. Immerhin: In der CDU und in der FDP gibt es Minderheiten, die verstanden haben, dass die alte BRD Geschichte ist.

Wann fängt die neue an? Rot-Rot-Grün in Thüringen ist 2014 auch deshalb als Labor bezeichnet worden, weil eine solche Zusammenarbeit auf Landesebene sich erproben muss, wenn sie bundespolitisch eine Option werden möchte. Über solche Signale für den Bund muss man derzeit nicht so viel sprechen, die Mathematik steht dagegen. Aber wahr ist auch, dass auf Bundesebene einfache Regierungsbildungen unwahrscheinlicher werden. Es kann also sein, dass sich nicht nur Thüringen bewegt, sondern durch ein „Erfurter Momentum“ abermals auch die Bundesrepublik.

„Grundlegendes muss sich verändern.“ So stand es 1997 in der „Erfurter Erklärung“. Man ließ keinen „Zweifel, wie schwierig es sein wird, Kompromisse einzugehen und dennoch die eigene Unverwechselbarkeit zu bewahren“. Man wusste, dass dafür „Toleranz in den eigenen Reihen“ wichtig ist.

All das gilt nun wieder, mehr als 20 Jahre danach, freilich unter ganz anderen Umständen. Es gibt gute Gründe, zu hoffen, dass das Labor Thüringen geöffnet bleibt.

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