Demokratische Pflicht?

Bundestag Experten erwarten eine erneut sinkende Wahlbeteiligung. Nun werden wieder Rufe laut, den Gang zur Urne mit „mildem Zwang“ zu aktivieren. Daraus kann nichts werden

Bei den vergangenen drei Bundestagswahlen stieg die Bereitschaft zur Teilnahme kurz vor dem Urnengang regelmäßig an. In diesem Jahr ist das anders: Fünf Prozent unter den üblichen Werten um die 70 Prozent) liegt der Anteil derer, die sich schon sicher sind, an der Wahl teilzunehmen. Die Entschlossenheit sei nicht nur niedrig, schreibt Renate Köcher, die Chefin des Instituts für Demoskopie in Allensbach, heute in der Frankfurter Allgemeinen. „Sie ist in den letzten Wochen auch kaum gestiegen.“

Man kann dafür allerlei Gründe finden: den lahmen Wahlkampf, der Ausschluss von immer mehr Koalitionsvarianten, die absurden und widersprüchlichen Versprechen der Parteien, die weitgehende Gleichförmigkeit des politischen Angebots, eine generelle Verdrossenheit mit dem herrschenden Parteienstaat, Wahlboykott aufgrund der Überzeugung, Veränderungen würden überall ihre Basis finden, nur nicht im Parlament. Oder schlicht Interessenlosigkeit. Die Liste lässt ich zweifellos fortsetzen.

Um das Nichtwählen ist zuletzt wieder so etwas wie eine kleine Diskussion entstanden. Handelt es sich immer mehr um einen sinnvollen politischen Akt, der längst „in der Mitte der Gesellschaft“ angekommen ist, bei Professoren, Ex-Politikern, aufgeklärten Autoren, wie man zu Wochenbeginn in der Süddeutschen lesen konnte? Oder stimmt doch eher, was Christian Bommarius in der Berliner Zeitung schreibt? „Demokratie endet nicht im Wahllokal, aber hier hat sie ihren Beginn. Den Gang dorthin mit der Begründung zu verweigern, damit sei ihr am besten gedient, ist nicht nur frivol, sondern dumm.“

In den vergangenen Tagen ist nun wieder eine Forderung laut geworden: Wahlpflicht. Jörn Thießen, ein SPD-Bundestagsabgeordneter, hat sich dafür ausgesprochen, der Politikwissenschaftler Armin Schäfer hält sie für wünschenswert. Der eine wohl vor allem deshalb, weil ein großer Teil der Abstinenzler aus dem Lager früherer sozialdemokratischer Wähler kommt. Der andere sieht die Demokratie unter Legitimitätsdruck.

Schäfer will den Urnengang deshalb am liebsten zur demokratischen Pflicht im Sinne des Wortes machen: durch Androhung eines moderaten Zwangs, eine Wahlpflicht, die wie in anderen europäischen Ländern auch das Nichtwählen mit einer geringen Geldstrafe belegt – wobei das Strafgeld nach Schäfers Worten „so gut wie nie“ eingezogen wird.

Zur Begründung weist Schäfer nicht zuletzt auf die soziale Dimension der Wahlverweigerung hin: Zuhause bleiben würden vor allem Geringverdienter, Transferbezieher, Menschen mit niedrigem Bildungsabschluss. „Es besteht zumindest die Gefahr, dass die Politik sich gar nicht mehr um diese Schichten bemüht, weil dort wenig zu holen ist“, so der Kölner Wissenschaftler.

Und genau deshalb müsste der Hebel nicht dort, sondern am anderen Ende der demokratischen Repräsentation angesetzt werden: bei der Politik, in den Parlamenten, bei den Entscheidern. Würden die sich mehr „um diese Schichten“ bemühen, meint: zu ihren Gunsten etwas tun, könnte auch deren Wahlneigung wieder wachsen. Weniger Lobbyismus, mehr volkswirtschaftliche Vernunft, Mut zu echter Umverteilung … nur um ein paar Stichworte zu nennen.

Wie man die Politik dazu bringen könnte? Das ist eine andere Frage. Die Androhung von 50 Euro Strafgeld, so viel ist sicher, hilft da nichts.

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