Man muss nur lange genug von Krawall reden, dann wird’s auch was. Seit Wochen macht eine große Koalition aus CDU-Politikern, Polizeigewerkschaftern und Medien gewaltig Stimmung: im wahrsten Sinne des Wortes. Dabei ist der 1. Mai ja weitaus mehr: der DGB rechnet mit Hunderttausenden bei den traditionellen Demonstrationen, bundesweit wird gegen geplante Nazidemos protestiert und die radikale Linke hält wacker das Banner der Revolution aufrecht. Ein kleiner Überblick:
Kreuzberger Nachtwächter
Von zunehmender „Eskalation zwischen Links- und Rechtsextremisten“ war die Rede, von einer neuen Ära der Gewaltbereitschaft angesichts brennender Autos, ja sogar von der Möglichkeit, dass es den „einen oder anderen Toten“ geben könnte. Jeder, der den Kreuzberger Mai aus den berühmt-berüchtigten Spiegel-TV-Reportagen zu kennen glaubt (diese streng ironische Anmoderation, herrlich!), weiß umfangreich über Gut und Böse zwischen Wrangelkiez und Kottbusser Tor zu berichten. Die Union nutzt die Gunst der dramatischen Stunde, um selbst auf die Barrikaden zu gehen und von dort lauthals nach schärferen Gesetzen zu rufen. In vielen Zeitungen wird kubikliterweise gefühltes Wissen über „ritualisierten Protest“ und „die gewaltbereiten Autonomen“ ausgeschüttet. Und wenn dann noch ein paar Tage vor dem 1. Mai in Berlin die Polizei zu Razzien in linken Buchläden antritt, lässt sich das ja fast schon als Aufforderung verstehen, seinen Frust bei passender Gelegenheit auch mal rauszulassen.
Offenbar haben die Sicherheitsbehörden inzwischen aber gemerkt, dass die Logik der Eskalation nicht zuletzt aus den markigen Sprüchen von Politikern ihre Dynamik bezieht. Als in der Hauptstadt noch der gaaaaaanz große Krawall an die Wand gemalt wurde, meldete sich der Verfassungsschutz aus dem ebenfalls „randalegefährdetem“ Hamburg mit einer gar nicht ins Bild passenden Prognose: „Aus unserer Sicht gibt es keinen Anlass zur Befürchtung, dass ein besonders schwieriger 1. Mai bevorsteht. Wir haben keine Anhaltspunkte für Gewaltexzesse“, so der Landesverfassungsschutzchef Heino Vahldieck. Einen Tag später warnte auch Berlins SPD-Innensenator Ehrhart Körting davor, „Gewaltausbrüche“ herbeizureden. Er halte nichts davon, „jetzt irgendetwas herbeizuschreien“, sondern, es sei wichtiger, die Menschen aufzufordern, friedlich zu demonstrieren. Bei Springers Bild ist das noch nicht angekommen – das Blatt lässt einen CSU-Minister den „Gewalt-Chaoten den Krieg“ erklären.
Zum Weiterlesen
Ein bisschen Empirie: "In der Studie von Prof. Dr. Klaus Hoffmann-Holland
geht es um die Analyse der Gewalt am 1. Mai 2009 in Berlin, die nur zu Teilen
einen linksextremistischen Hintergrund erkennen lässt." (hier)
„Man versucht, die Eskalation herbeizureden“. Die Junge Welt hat mit
dem Berliner Ermittlungsausschuss gesprochen (hier)
Sämtliche Erneuerungsversuche für den ersten Mai sind gescheitert,
meint man bei der Tageszeitung und schreibt einen „Abschiedsgruß“ (hier)
Einen interessanten Kontrast bringt die Jungle World: Gewalttätige
Polizisten müssen kaum mit juristischen Konsequenzen rechnen (hier)
Wer ehrt die Polizisten?, fragt sich der Tagesspiegel (hier)
Für die Berliner Morgenpost wird der 1. Mai „zum doppelten Testfall“ (hier)
Wir gehen vor: die Gewerkschaften
Es wird sich ja gern über die gewerkschaftlichen Bratwurstrituale am traditionellen Tag der Arbeit lustig gemacht. Doch was da als politisch wirkungslos und ritualisiert abgestempelt wird (sind das nicht die selben Argumente wie gegen die Kreuzberger Kiezrandale?), zieht immer noch Hunderttausende auf die Marktplätze. Um einigermaßen genau zu sein: 480.000 waren es im vergangenen Jahr, als der 1. Mai eine Art Protestbrücke zwischen den Krisendemos im März und einem gewerkschaftlichen Aktionstag Mitte Mai darstellte. In diesem Jahr ruft der Dachverband DGB zu mehr als 430 Aktionen unter dem Motto „Wir gehen vor! Gute Arbeit, Gerechte Löhne, Starker Sozialstaat“. Die zentrale Kundgebung wird – die NRW-Wahlen stehen vor der Tür – in Essen abgehalten, dort soll auch DGB-Chef Michael Sommer sprechen.
Traditionell stehen am 1. Mai auch Parteipolitiker auf den Gewerkschaftsbühnen – und immer mal wieder gibt es einigen Rummel deswegen. Das war so, als der bayerische DGB 2007 vier Sozialdemokraten wieder auslud; und das war so, als der bayerische DGB den Linkspartei-Schauspieler Peter Sodann 2009 eingeladen hatte. Irgendwer ist immer empört. Auch in diesem Jahr: In Baden-Württemberg hat der DGB in diesem Jahr keine Parteipolitiker eingeladen – sieht man von einer eher erstaunlichen Ausnahme ab. In Göppingen wird der Linken-Politiker Ulrich Maurer sprechen, die SPD ist nicht gerade amüsiert. Anders herum erging es dem niedersächsischen Linkenchef Diether Dehm, der zwar vom DGB eingeladen war – 48 Stunden vor dem 1. Mai aber wieder ausgeladen wurde und nun zürnt, der Dachverband sei „wieder einmal zu SPD-Vorfeldorganisation erniedrigt“. Und noch ein drittes Beispiel: Die Dresdner CDU nimmt in diesem Jahr nicht an der DGB-Maikundgebung teil, weil dort auch der designierte Linkenchef Klaus Ernst reden wird. Zu den Begründungen der Union gehört der lustige Hinweis, Ernst sei bekennender Marxist. Der DGB ließ die CDU kühl abtropfen: „Man kann sich nur abmelden, wo man vorher beteiligt war.“
Und nun auch die Süddeutsche:Kurz vor der NRW-Wahl zettelt die Linke
einen Streit mit dem DGB an. Der Vorwurf: mangelndes Interesse an
Rednern der Linken zum 1. Mai. (hier)
Was heißt hier revolutionär?
„Warum soll die radikale Linke an ihrem internationalen Kampftag nicht mit eigenen Inhalten auf die Straße gehen, anstatt sich kleinlaut und unerkannt bei Gewerkschaftsdemos einzureihen oder allein Naziaufmärschen hinterherzureisen?“ Die Frage der Antifaschistische Aktion Hannover ist eigentlich eine Antwort. Die Tageszeitung Neues Deutschland hat bei Organisatoren verschiedener explizit antikapitalistischer beziehungsweise revolutionärer 1.-Mai-Demos nach ihren Beweggründen gefragt – die Antworten gibt es hier.
Was machen die Nazis?
Bundesweit sind für den 1. Mai gleich mehrere Aufmärsche von Rechtsradikalen angekündigt – das hat breite Bündnisse auf den Plan gerufen, die gegen die Nazis demonstrieren oder deren Routen blockieren wollen. In Berlin wurde Kritik am Innensenat laut, weil der die Wegstrecke der Rechten nicht verraten will. "Man muss den Eindruck haben, dass hier der Protest gegen die Nazi-Demo erschwert wird", sagte der SPD-Bezirksbürgermeister von Pankow, Matthias Köhne. Durch die "nicht hinnehmbare Hinhaltetaktik der Polizei" sei eine "fatale Situation" entstanden, weil unnötige Konflikte entstünden. Ein Bündnis hat rechtzeitige Blockaden der Strecke angekündigt: "Unser Ziel ist es, dass die Nazis gar nicht erst loslaufen können."
Eine fragwürdige Alternative hat unterdessen CDU-Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) vorgeschlagen: „Rechtsextremisten, die demonstrieren, kann man auch durch Nichtbeachtung besonders strafen.“ Das ist im vergangenen Jahr bereits böse in die Hose gegangen, als in Dortmund Neonazis eine DGB-Kundgebung angriffen – und die Polizei den Angriff durch Nichtbeachtung "strafte", das heißt nicht vor Ort war. In diesem Jahr soll das anders werden. Gegen eine bereits für Freitag angekündigte Nazidemo rufen die Bündnisse »Dortmund stellt sich quer!« und »Dortmund gegen rechts« zu Protesten und Blockadeaktionen auf. Mehr dazu hier.
Und schließlich: die Freitags-Community
Last not least noch der Hinweis auf die Community-Debatte zum 1. Mai, die ich mit meinem Firefox nicht öffnen kann, weil der dann umgehend abrauscht - was vielleicht an der Audiodatei liegt, die automatisch startet, wenn man die betreffende Seite öffnet. Oder an meinem technischen Unverstand. Also Vorsicht – oder viel Spaß. (hier)
Kollege Kraft recherchiert der Frage hinterher, ob denn "die Prügel-Polizisten" von der "Freiheit statt Angst"-Demonstration aus dem vergangenen September auch beim 1. Mai im Einsatz sind. Ein paar Antworten gibt es hier.
Kommentare 4
was hier in sachsen fast täglich seitens cdu und fdp gegen die linke instrumentalisiert wird, kann man in dieser videoaufzeichnung aus dem sächsischen landtag sehen, gleich mit dem ersten redner (hier geht es um einen antrag von cdu und fdp auf "Rückzahlung des Vermögens von Parteien und Massenorganisationen der ehemaligen DDR an den Freistaat Sachsen"); und auch hier ist es der grünen-abgeordnete karl-heinz gerstenberg, der dieser instrumentalisierung paroli bietet. Demnächst in einem eigenen blog mehr zu diesen sächsischen ideologie-spielchen ...
"Ein kleiner Überblick", und der ist amüsant zu lesen, guck an, das bei dem Thema!
Mein Blick in die verlinkte Fr-C. hat ergeben, dass dort alle gar sehr erschrocken sind über irgend so ein Atzen-Video, dass man anscheinend für ein offizielles Statement der Autonomen Antifa hält. Keine Angst, Leute, die sind doch unter Kontrolle der verdeckt mitmarschierenden Beamten! Höchstens, dass es zu ein paar Kollateralschäden kommt...
Meine selber erlebten Eindrücke aus Nürnberg:
Am Ersten-Mai-Vorabend war ich auf einer Veranstaltung, wo Klaus Ernst eine leidenschaftliche Rede gehalten hat. Danach hat es eine lebhafte Diskussionsrunde gegeben. Das gspassige Verhalten der Dresdner CDU (siehe den Artikel oben) hat er auch angesprochen. Bereichert wurde die Veranstaltung auch durch revolutionäre Lieder aus früheren Zeiten. Insgesamt ein gelungener Abend.
Der Erste Mai hat mir gut angefangen mit einer großen DGB-/Bürger-Demo und anschließend eine Kundgebung und ein Fest. Ist alles friedlich abgelaufen. Gleichzeitig gab es ein paar Kilometer entfernt eine Revolutionäre Demo mit einem anschließenden Internationalistischen Fest (siehe den oben verlinkten Neues-Deutschland-Artikel). Da gab es Krawall. Wie diese Demo verlaufen ist, habe ich nicht mitbekommen. Ich habe später nur beim Fest vorbeigeschaut. Da habe ich gehört, dass es auf der Demo schon robuster zugegangen sein soll. Als ich ankam, hat die Staatsmacht schon angefangen, mit Blaulicht und Sirenen aufzufahren. Auf dem Fest selber ist es noch friedlich belebt zugegangen. Ein Stück weiter weg allerdings haben Ad-hoc-Revolutionäre etwas auf der Straße abgefackelt. Dann ist die Staatsmacht in voller Montur aufmarschiert und hat den ganzen Block umstellt, praktisch alle in Sippenhaft genommen. Die Ad-hoc-Revolutionäre sind darauf eingestiegen. Ich bin dann wie auch andere Leute gegangen. Auf dem Fest waren übrigens auch Familien mit Kindern, ist ja mitten in der Stadt gewesen. Wir sind beäugt hintereinander durch die Polizeikette hinausgelassen worden. Es ist offensichtlich eine beiderseitige (Staatsmacht und Ad-hoc-Revolutionäre) Eskalation gewesen zulasten der friedlichen Teilnehmer und Besucher.
Noch ergänzt zu meinem Kommentar von gestern: Zu einem etwas surrealen Touch hat eine marschierende Clown-Aktivisten-Kapelle beigetragen, die die Titelmelodie von Star-Wars gespielt hat. Durch die gleiche Straße herein, wo kurz danach die imperiale Abriegel-Kampftruppe aufmarschiert ist und die Straßenrevolutionäre angezogen hat. Die Kapelle ist dann in Richtung des Endes, wo die Straßenbarrikade gebrannt hat, weitermarschiert, und dann abgebogen. Am vorgenannten Ende ist es dann handfest geworden, während am dritten Ende, dem noch friedlichen, Zivilisten (ich inbegriffen) aus dem Kessel abgezogen sind. Ich habe dann noch gesehen, dass da die Verhaftungstruppe hineingeströmt ist, also das metaphorische Hackl ins Kreuz der Straßenrevolutionäre. Heute musste ich an das Lied zur gescheiterten 1848er Revolution bei der genannten Vorabend-Veranstaltung denken.