Der Freitag: Wie tief wir in der Krise stecken, wird vor allem mit einer Zahl verbunden: dem Brutto-inlandsprodukt. Auf genaue Prognosen über den künftigen Verlauf wollen sich viele Ökonomen angesichts der galoppierenden Rezession nicht mehr festlegen. Als sicher gilt allenfalls, dass die Wirtschaftsleistung zunächst auf Talfahrt bleiben wird. Was sagt der Index wirklich über die Lage in Deutschland aus?
Hans Diefenbacher: Das Bruttoinlandsprodukt ist eine Möglichkeit, die Wirtschaftsleistung darzustellen. Allerdings handelt es sich um eine Methode mit einigen Schwächen. Der Index beruht nämlich auf Konventionen, die seine Aussagefähigkeit stark beeinflussen. Ein beachtlicher Teil der Wertschöpfung wird nicht einbezogen. Das betrifft etwa ehrenamtliche Tätigkeiten und Hausarbeit. Andere Teile der Wertschöpfung, die nicht über den Markt vermittelt werden, gehen dagegen in die Berechnung des BIP ein, etwa ein Schätzwert für selbst genutztes Wohneigentum. Fragen des sozialen Zusammenhalts wiederum bleiben außen vor, weil zum Beispiel die Einkommensverteilung keine Rolle spielt. Dasselbe gilt für Umweltgebrauch und Naturzerstörung. Über den tatsächlichen Wohlstand in einer Gesellschaft kann man aus dem BIP also nur bedingt etwas lernen.
Reden Politiker, Medien und Wirtschaftsexperten die ganze Zeit über die falsche Zahl?
Nicht der Indikator ist das Problem, sondern die überragende Rolle, die er in der öffentlichen Diskussion spielt. Die Summe der Werte aller im Inland hergestellten Güter gibt uns ein Bild davon, wie es ökonomisch um die Volkswirtschaft steht. Wenn sich die Regierung davon ausgehend aber allein auf Maßnahmen konzentriert, die das BIP wachsen lassen, wird eine rein quantitative statistische Betrachtung in praktische Politik umgesetzt. Darin sehe ich eine Gefahr. Ein Konjunkturprogramm ist nicht schon allein dadurch „gut“, dass es auf eine Verbesserung des BIP zielt.
Aber das ist die Botschaft, die wir derzeit immer wieder hören: Wachstum löst Problemee
Wachstum verursacht jedoch auch Probleme. Das muss man berücksichtigen. Zerstörung der Umwelt zum Beispiel. Und die
ungleiche Verteilung von Reichtum hat ein erhebliches Maß erreicht, wenige haben sehr viel Geld zur Verfügung, aber sehr
viele sehr wenig. Eine weltweit steigende Wirtschaftsleistung hat in der Vergangenheit soziale Probleme und Naturzerstörung oft eher verschärft. Auch die ausgeprägte Orientierung an materiellen Gütern und am Konsum als Wohlfahrtsmotor wird durch das BIP gestützt. Das sind Prioritäten, die angesichts schwindender natürlicher Ressourcen keine tragfähige Grundlage für ein zukunftsfähiges Wirtschaftsmodell mehr sein können.
Sie haben gemeinsam mit Roland Zieschank für das Umweltbundesamt einen neuen „Nationalen Wohlfahrtsindex“, kurz: NWI, entwickelt. Was ist anders an diesem Indikator?
Wir haben uns an bereits vorliegenden alternativen Indikatoren orientiert, etwa dem ISEW und dem GPI [siehe Kasten]. Statt nur die reine Produktion von Gütern zu erfassen, haben wir unter anderem die Verteilung der Einkommen berücksichtigt und in den „Nationalen Wohlfahrtsindex“ auch Hausarbeit und ehrenamtliche Tätigkeit als wichtigen Teil der Wertschöpfung eingerechnet. Außerdem werden die Kosten von ökologischen Schäden und unumkehrbarem Naturverbrauch
abgezogen.
Wie sehen ihre Ergebnisse aus?
Unser Wohlfahrtsindex hat in den vergangenen Jahren im Vergleich mit dem Bruttosozialprodukt
einen anderen Verlauf genommen. Während dieses stetig gestiegen ist, hat der NWI etwa im Jahr 2000 seinen Höhepunkt erreicht und ist seither gesunken. Die Folgeprobleme des Wachstums sind um die Jahrtausendwende offenbar derart groß geworden, dass die negativen Effekte danach die positiven überwiegen.
Ihr Vorschlag ist nicht der einzige, die Diskussion über die Aussagefähigkeit der etablierten Indikatoren läuft seit Jahren. Durchsetzen konnten sich Alternativen bisher nicht. Ist die Krise für Sie ein günstiger Zeitpunkt?
Wir haben den NWI nicht für die Krise entwickelt und ich möchte auch gar nicht als deren Profiteur dastehen. Das System der statistischen Berichterstattung lässt sich nicht so schnell verändern, neue Daten müssten erfasst, Methoden verbessert werden. Das dauert. Wir haben unseren Vorschlag erst im vergangenen Winter vorgelegt. Niemand erwartet, dass der NWI über Nacht das BIP ersetzt. Das ist auch gar nicht unser Ziel. Ich wünsche mir vielmehr, dass unser Index in Zukunft immer parallel zu den Gutachten der Wirtschaftsinstitute veröffentlicht wird und eine ähnliche Aufmerksamkeit erhält. Der Vergleich beider Indikatoren – BIP und NWI – könnte der Diskussion über eine angemessene Wohlfahrtsbetrachtung neuen Schwung verleihen. Die Basis für politische Entscheidungen könnte breiter werden. Fortschritt in Industriegesellschaften kann auch in der Effiziensteigerung bei der Nutzung von Ressourcen und einem alternativen Wohlstand jenseits reiner Produktanhäufungen bestehen.
Wagen Sie eine Prognose über den weiteren Verlauf des NWI?
Das ist genauso schwierig wie eine detaillierte Vorhersage über die Entwicklung des Bruttoinlandsproduktes. Wenn sich die Verteilung der Einkommen deutlich verändern und die Wirtschaftspolitik weit stärker als bisher Umweltziele zu ihrer Angelegenheit machen würde, dann würde der NWI aber sicher wieder steigen.
Wie Wachstum und Wohlfahrt berechnet werden: BIP, BNE und Co.
Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) zeigt den Wert aller binnen eines Jahres hergestellten Waren und Dienstleistungen an, die dem Endverbrauch dienen. Der Indikator hat in den neunziger Jahren in der Öffentlichkeit das bis dahin populäre Bruttosozialprodukt (BSP) abgelöst. In der Fachdebatte spielt die auch als Bruttonationaleinkommen (BNE) bezeichnete Kennziffer weiterhin eine wichtige Rolle.
Angesichts der begrenzten Aussagefähigkeit dieser ökonomischen Größen wird schon seit vielen Jahren über alternative Modelle diskutiert.
Ausgehend von Überlegungen von James Tobin und anderen führten 1989 Herman E. Daly und John B. Cobb den Index of Sustainable Economic Welfare (ISEW) ein, der ökologische Folgekosten und soziale Parameter einbezieht. Diese Berechnungsmethode ist später zum Genuine Progress Indicator (GPI) weiterentwickelt worden.
Ende 2008 haben Hans Diefenbacher und Roland Zieschank, der bei der Forschungsstelle für Umweltpolitik an der Freien Universität Berlin arbeitet, einen Vorschlag für einen neuen Indikator zur Wohlfahrtsmessung in Deutschland vorgelegt: den Nationalen Wohlfahrtsindex (NWI). Die vom Umweltbundesamt geförderte Studie findet sich im Internet unter beyond-gdp.euWie Wachstum und Wohlfahrt berechnet werden: BIP, BNE und Co.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.