Die Ärmsten im Visier

Rotstift Von wegen "Menschen im Mittelpunkt": Schwarz-Gelb erfüllt die Prophezeiung und lässt den Sparhammer dort fallen, wo Menschen nichts zu erübrigen haben

Wenn die Regierenden drastische Kürzungen verkünden, dürfen drei Standardformulierungen nicht fehlen: Sozialabbau ist „unumgänglich“, stets eine „Herkulesaufgabe“ und wird, drittens, natürlich nur zum Besten der Gesellschaft durchgesetzt. Der klebrige Wortsalat, mit dem Union und FDP ihr Sparpaket garnieren, macht da keine Ausnahme. Politisches Business as usual im Krisenjahr 2010 – frei von jedem konzeptionellen Anspruch, der über reines Etatdenken hinausgeht; Regierungshandeln ohne den geringsten Lerneffekt aus dem ökonomischen Absturz der vergangenen Jahre, parteitaktisch gestrickte Koalitionskompromisse jenseits aller verteilungspolitischen Vernunft.

Als Angela Merkel und Guido Westerwelle am Montag die Ergebnisse der Klausur mit dem holprigen Untertitel Acht Punkte für solide Finanzen, neues Wachstum und Beschäftigung und Vorfahrt für Bildung präsentierten, wurde trotzdem amüsiert gescherzt. Millionen dürfte das Lachen kurz nach 15 Uhr dagegen vergangen sein. Um Streichlisten-Sätze wie „im Mittelpunkt unserer Politik steht der Mensch“ nicht als zynischen Hohn zu verstehen, muss man schon Besserverdienender sein, am besten Aktionär eines Finanzunternehmens. Die haben weder steuerliche Belastungen noch sonst irgendeine Unbill zu fürchten. Der Bankensektor wird erst ab 2012 zu einer Abgabe genötigt – und diese bringt gerade einmal zwei Milliarden Euro in den Topf, etwas mehr, als die Deutsche Bank im ersten Quartal 2010 an Profit eingestrichen hat. Krisengewinner bleiben Krisengewinner.

Die Sparliste der Koalition - hier
"Acht Punkte" der Regierung - hier

Man muss den Satz vom „Menschen im Mittelpunkt“ so interpretieren: Die Ärmsten werden abermals ins Visier genommen. Erübrigen sollen nämlich vor allem jene, die schon jetzt nicht genug haben: Erwerbslosen und Jobsuchenden geht es an den zerschlissenen Kragen. Von den 13,2 Milliarden Euro, welche die Koalition im kommenden Jahr sparen will, gehen allein fünf Milliarden auf das Konto von Sozialleistungen und Arbeitsmarktmaßnahmen. Wo Merkel und Co. von „offenkundigen Konsolidierungspotenzialen“ reden und zur „Neujustierung“ schreiten, wird neue Armut produziert. Für Langzeiterwerbslose wird das Elterngeld gestrichen, der Heizkostenzuschuss getilgt und der Rentenversicherungsbeitrag abgeschafft. Eine Antwort darauf, warum die „Notwendigkeit des befristeten Zuschlags“ beim Übergang ins Arbeitslosengeld II „überholt“ sein soll, bleibt Schwarz-Gelb schuldig.

Worum es der Koalition in Wahrheit geht, wird nicht nur am Beifall von Arbeitgeberpräsident Hundt, sondern auch in dem knapp achtseitigen Ergebnispapier der Regierungsklausur deutlich: die Verbilligung von abhängiger Arbeit. Gleich mehrfach ist von falschen Anreizen, einem zu geringen Lohnabstand und dergleichen die Rede. Es gehe darum, „Anreize zur Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung zu stärken“, schreiben die Koalitionäre – wohl wissend, dass es solche Stellen kaum gibt und die pure Not die Menschen eher in Billigjobs treiben wird. Was wiederum den Druck auf die „normalen“ Arbeitsverhältnisse und Tarifstrukturen erhöht.

Schwarz-Gelb hat wahr gemacht, was monatelang prophezeit wurde: dass irgendwann nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen der Sparhammer fällt, die Krisenprofiteure geschont und bei denen gestrichen wird, welche die schwächste Lobby haben. Es hat sich bisher wenig in der Gesellschaft dagegen geregt. Nun auf größeren Widerstand oder gar Abhilfe auf einem alternativen gesellschaftlichen Pfad zu hoffen, setzt – trotz, oder besser: gerade auch im Lichte der markigen Worte aus der Opposition – ziemlich großen Optimismus voraus. Aber es ist so: Nur ein langer Protest-Atem von Gewerkschaften und Erwerbslosen, linken Gruppen und Sozialinitiativen, nur eine neue Widerstandskultur kann Merkels Agenda 2020 noch stoppen. Für alle politischen Überlegungen, die darüber hinausgehen, gilt das sowieso.

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Geschrieben von

Tom Strohschneider

vom "Blauen" zum "Roten" geworden

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