Die Hartz-Kürzung: Warum Behinderte nun 73 Euro weniger bekommen

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Die Hartz-Reform erhält am Freitag den letzten Segen. Im Bundestag ist eine namentliche Abstimmung vorgesehen; im Bundesrat werden sich unter anderem die rot-roten Länder (hier) und Nordrhein-Westfalen (hier) enthalten. Die mediale Fokussierung auf den Kompromiss im Vermittlungsausschuss, bei dem eine lächerlich geringe Regelsatzaufstockung und die Frage der Verteilung von finanziellen Lasten zwischen Bund und Ländern im Vordergrund stand, hat andere Elemente der Reform in den Schatten gedrängt - unter anderem die Kürzung der Leistungen für erwachsene Behinderte, denen unter bestimmten Umständen ein Fünftel des Regelsatzes gestrichen wird. Das Thema hatte in der vergangenen Woche, als die Hartz-Novelle schon einmal im Bundestag diskutiert wurde, zu einem kleinen, leider zu wenig beachteten Wortwechsel im Plenum geführt:

Gerade hatte der CDU-Parlamentsgeschäftsführer Peter Altmaier den Verhandlungsstand als „sozialpolitisch beispielhaft und richtungsweisend“ gelobt, da meldete sich der Linken-Abgeordnete Ilja Seifert zu einer Zwischenfrage: „Können Sie mir bitte sagen, worin das Vorbildhafte besteht, wenn bei erwachsenen behinderten Menschen, die nicht erwerbsfähig sind, 20 Prozent des Regelsatzes einfach so weggenommen werden? Das sind nach alter Rechnung 68 Euro und nach neuer Rechnung 73 Euro.“ Es war Altmaier durch den rot-rot-grünen Beifall für Seifert anzusehen, dass der einen wunden Punkt angesprochen hatte. Einerseits für die Koalitionsparteien, was an Altmaiers Reaktion sichtbar wurde. Denn wann passiert es schon einmal, dass ein CDU-Mann einem Linken-Politiker verspricht, „dass wir das bei nächster Gelegenheit prüfen und gegebenenfalls korrigieren werden“. Andererseits aber auch für SPD und Grüne.

Die neue Regelbedarfsstufe 3 sieht unter anderem vor, dass erwachsene Hilfebedürftige, die mit anderen Erwachsenen zusammenleben, auch dann nicht den vollen Regelsatz bekommen, wenn sie mit diesen keine Bedarfsgemeinschaft bilden. Das trifft zum Beispiel Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung bei den Eltern oder in einer Wohngemeinschaft leben. Ein Unding, über das es auch auf der rot-grünen Seite im Parlament offenkundige Verärgerung gab. Altmaier wies am vergangenen Freitag jedoch darauf hin, dass „weder die Kollegen von den Grünen noch die Kollegen von der SPD“ die Frage in den wochenlangen Gesprächen überhaupt thematisiert hätten. Worauf sich die sozialdemokratische Abgeordnete Elke Ferner zu Wort meldete und Altmaier fragte, ob er nicht im Gegenteil dazu bestätigen könne, „dass ich Sie in der ersten bzw. zweiten Runde der Unterarbeitsgruppe nochmals, nachdem wir das Thema in allen Vermittlungsrunden schon angesprochen hatten“ auf die Frage der Schlechterstellung behinderter Hartz-Empfänger aufmerksam gemacht habe: „Oder leiden Sie, Kollege Altmaier, an Gedächtnisverlust?“

Der CDU-Mann redete sich mit dem Hinweis heraus, die SPD habe in den Verhandlungen „stundenlang all das an Forderungen“ erhoben, „was Sie in den letzten zehn Jahren gegenüber Ihren eigenen Finanz- und Sozialministern zu keinem Zeitpunkt durchsetzen konnten“. Im Übrigen leben man hier nicht in einem „finanzpolitischen Wunderland“, was Ferner zu dem Zwischenruf animierte, keine Antwort sei eben auch ein. Altmaier fuhr in seiner Rede fort, lobte weiter den Verhandlungsstand und kritisierte SPD sowie Grüne. Bis sich nun auch die frühere Gesundheits- und Sozialministerin Ulla Schmidt meldete und das Thema der Regelsatzkürzung für Behinderte noch einmal ansprach. „Ich habe mich zu Wort gemeldet, weil der Kollege Altmaier nach meiner Auffassung sehr unzureichend oder überhaupt nicht auf die Fragen geantwortet hat, die der Kollege Seifert und auch die Kollegin Ferner gestellt haben.“

Die Sozialdemokratin erzählte von einem Besuch in einer Werkstatt für Behinderte, in der 400 Menschen arbeiten, die zum Teil bei ihren Eltern, zum Teil in betreuten Einrichtungen wohnen. „All diesen 400 Menschen sagt diese Regierung: Ihr bekommt den Regelsatz um 20 Prozent gekürzt“, empörte sich Schmidt. „Hier geht es nicht darum, Maximalforderungen zu erheben. Es geht auch nicht darum, Ansprüche auszuweiten.“ Sondern schlicht um Kürzungen - und dies sei „eine Schande“. Der Wortwechsel brachte Altmaier erkennbar in die Defensive, aber der wusste sich zu verteidigen: Er könne sich nicht an jedes Detail erinnern, das SPD oder Grüne in den Gesprächen auf den Tisch gepackt hätten. Aber in den entscheidenden Verhandlungsrunden habe er, Altmaier, „mit Frau Schwesig, Herrn Oppermann und Herrn Kuhn an drei Tagen und in drei Nächten“ zusammengesessen. Man habe dabei über 100 verschiedene Punkte besprochen. Aber die Frage der Regelsatzkürzung für Behinderte „ist von SPD und Grünen in dieser Chefrunde kein einziges Mal thematisiert worden“.

Kurz darauf war die Debatte zur Hartz-Reform im Parlament beendet. Noch am selben Freitag nahm der Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat neue Verhandlungen über die Novelle auf – und es begann das, was inzwischen als „Rettung der Hartz-Gespräche“ bezeichnet wird. Nun wäre eigentlich Altmaier am Zug gewesen, der dem behindertenpolitischen Sprecher der Linken, Ilja Seifert, die Zusage gemacht hatte, den wenig beachteten 68-Euro-Skandal „bei nächster Gelegenheit prüfen und gegebenenfalls korrigieren werden“. Gegebenenfalls? Tatsächlich einigte man sich im Vermittlungsausschuss auf eine Protokollnotiz, nach welcher der Regelsatz der Bedarfsstufe 3 mit dem Ziel überprüft werden soll, „Menschen mit Behinderungen ab dem 25. Lebensjahr den vollen Regelsatz zu ermöglichen“. Die Vorsitzende des zuständigen Bundestagsausschusses und Linken-Vize Katja Kipping hat inzwischen erklärt, diese Formulierung sei „nichts wert, da es keinerlei Terminfestlegung dafür gibt“. Es deute sich an, dass eine Überprüfung wohl erst mit der nächsten Einkommens- und Verbrauchsstichprobe kommen werde - also in einigen Jahren. „Schwarz-Gelb und die SPD verzichten bewusst darauf, die Verschlechterung im Gesetz zu streichen“, so Kipping. „Damit bekommen bedürftige Behinderte ein Fünftel gestrichen.“

So schwer es in den vergangenen Monaten war, die Interessen der über sechs Millionen Betroffenen zum Gegenstand der Debatte zu machen, so schwerer dürfte es werden, die Belange einer eher kleineren Gruppe von Menschen durchzusetzen, denen mit der Reform dieser von Karlsruhe formulierte Anspruch sogar noch abgesprochen wird. Dabei ist es praktisch zunächst einmal beinahe irrelevant, dass die Regelung so offenkundig verfassungswidrig ist, da freihändige Abschläge bei der Regelsatzbemessung durch das Urteil vor einem Jahr ja gerade für unzulässig erklärt wurden und es auch ein Urteil des Bundessozialgerichts gibt, in dem eine Kürzung der Regelsätze bei zusammen lebenden Erwachsenen abgelehnt wird. Denn die Kürzung tritt nun in Kraft, der Klageweg ist lang, die politische Mobilisierung der Betroffenen selbst schwierig.

Die Reform stellt sich am Ende als zynische Mischung aus verfassungsgerichtlich aufgezwungener Reparatur und haushaltspolitisch verkürztem Deal heraus. Mit dem hohen Ziel jenes vom Bundesverfassungsgericht formulierten Anspruchs auf „diejenigen materiellen Voraussetzungen“, die für eine „physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind“, hat das Regelwerk nichts zu tun. Alternativen lagen vor, die "Große Koalition plus" hat sich anders entschieden. Die Linkspartei will nun eine Normenkontrollklage gegen die Hartz-Reform anstrengen. Damit könnte die Novelle am schnellsten wieder in Karlsruhe landen. Doch die Fraktion braucht dazu die Unterstützung anderer Parteien. Die Grünen, die am Schluss der Verhandlungen demonstrativ unter Hinweis auf die verfassungsrechtlichen Fehler aus den Gesprächen ausgestiegen sind, können sich dem Angebot der Linken eigentlich nicht entziehen. Um das für eine Normenkontrollklage nötige Viertel der Abgeordneten voll zu machen, müssten zudem SPD-Abgeordnete mit ins Boot geholt werden. Politisch ist das nicht so einfach, weil die Sozialdemokraten ja selbst Teil des Kompromisses sind. Andererseits haben führende SPD-Politiker bereits erklärt, auch sie hätten ihre Zweifel daran, dass die Neuberechnung der Regelsätze verfassungsgemäß ist. Die 20-Prozent-Kürzung für Behinderte müsste aber Anlass genug sein. Frau Ferner und Frau Schmidt können eigentlich gar nicht anders, als sich dem Klagevorstoß der Linken anzuschließen. Und vorausgesetzt, die Grünen machen mit, fehlen dann gar nicht mehr so viele.

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Geschrieben von

Tom Strohschneider

vom "Blauen" zum "Roten" geworden

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