Der Weg zum Kanzlerkandidaten führt an Guido Westerwelle vorbei. Einmal, zweimal, dreimal: „Arbeit muss sich wieder lohnen.“ Das könnte auch eine SPD-Parole sein, steht aber auf den Plakaten der FDP. Frank-Walter Steinmeier wird später an diesem Tag auf dem Potsdamer Platz sagen, die anderen Parteien hätten noch nicht begriffen, dass es das „nobelste Ziel“ in diesem Wahlkampf sei, sich für Jobs einzusetzen. Es ist der Tag, an dem die Zeitungen voller Kommentare über den „Ausraster“ von Franz Müntefering sind, weil der SPD-Chef Angela Merkel vorgeworfen hat, ihr seien die Erwerbslosen egal. „Verzweiflung“ steht da, immer wieder dieses Wort: „Verzweiflung“.
Sind die Sozialdemokraten verzweifelt? Und selbst wenn es so wäre: Wer einen Kanzlerkandidaten ins Rennen schickt, der muss bis zum Schluss so tun als ob. Und so versucht die SPD händeringend, in die Offensive zu kommen. Kompetenzteam, Deutschlandplan, Ulla Schmidt – fast alles geht nach hinten los. Erst rutschen die Sozialdemokraten bei Forsa auf ein historisches Umfragetief. Dann meldet Infratest den schlechtesten je erhobenen Wert. Und die Zeit wird immer knapper.
Die Schwäche der SPD hat viele Gründe. Der eine hat etwas mit dem Ende einer Volkspartei zu tun, mit neuer Klassenfragmentierung und dem Verschwinden sozialdemokratischer Milieus, mit einer Welt voller neuer Fragen, in der die alten Antworten der Wachstum-schafft-Umverteilungsspielraum-Arbeiterbewegung nicht mehr so viel zählen. „In früheren Jahrzehnten waren sich die Sozialdemokraten ihres gesellschaftlichen Ortes, ihrer sozialen Ursprünge und materiellen Interessen sicher. Diese Gewissheit und Übereinstimmung von Ort, Subjekt und Ziel existiert nicht mehr.“ Geschrieben hat das der Politikwissenschaftler Franz Walter, als Kurt Beck noch Parteivorsitzender war. Beck ist längst weg, aber das Problem ist geblieben.
Dafür ist jetzt dieser „Wahlwürfel“ da, der hat immerhin eine passende Geometrie, denn um die Wahl doch noch zu gewinnen, müsste den Sozialdemokraten schon die Quadratur des Kreises gelingen. Eines Teufelskreises aus schlechten Umfragen, schlechter Presse und noch schlechteren Umfragen. Zwischen 11 und 17 Prozent lag die SPD zuletzt hinter der Union zurück. „Natürlich bin ich nicht zufrieden mit der Umfragesituation“, hat Steinmeier gesagt. Und dann haben sie sich wieder gegenseitig Mut gemacht mit dem Hinweis, es gebe noch viele unentschlossene Wähler. 60 Prozent, hofft Steinmeier. Maximal 40 Prozent sagt der Parteienforscher Jürgen Falter. Vielleicht sind es auch nur ein Drittel. Die SPD habe noch Reserven, wird Forsa-Chef Manfred Güllner zitiert. Es klingt wie: Schlimmer kann es jetzt nicht werden.
Ende August will die SPD „in die heiße Phase des Wahlkampfes“ starten. Ein „zentrales Element“ soll dabei der „Wahlwürfel“ sein. Die Präsentation beginnt mit Sirenengeheul, so, als ob hier nur noch der Rettungswagen helfen kann. Auf der anderen Straßenseite protestieren „Deutschlands am schlechtesten bezahlte Polizisten“. Die Gewerkschaft spricht angesichts der Einkommenssituation der Beamten im sozialdemokratisch regierten Berlin von einem „Glaubwürdigkeitsproblem“. Wer hinüberschaut, kann das Plakat auf dem Mittelstreifen nicht übersehen: „Die SPD kämpft für Arbeitsplätze.“
Das ist der zweite Grund für die Schwäche der SPD: Wie soll man erklären, warum nach über zehn Jahren Regierungszeit mit dieser Partei nun alles anders werden soll. Gute Löhne, menschliche Gesellschaft, echte Gleichstellung – so klingen bei der SPD die „Ziele, für die wir kämpfen“. Viele denken dann an die Agenda 2010. Zuletzt gab es immerhin Kurzarbeit gegen die Krise. Da denken viele aber eher an die Kanzlerin. Den Sozialdemokraten ist es nicht gelungen, sich in der großen Koalition zu profilieren, sagen Experten. „Ihr fehlt ein funktionales Äquivalent zur Ostpolitik im Vergleich zur ersten großen Koalition Ende der sechziger Jahre“, meint der Politologe Peter Lösche. Damals wurde der SPD-Außenminister der nächste Kanzler: Willy Brandt.
Viel Glanz, keine Tradition
Die Vergangenheit ist weit weg, am Potsdamer Platz fällt das besonders auf. Hier ist viel Glanz, aber keine Tradition. In den hohen Glaskästen, die nach 1990 hier gebaut wurden, sitzen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften. Und wo die SPD ihren „Wahlwürfel“ aufgestellt hat, gib es im Winter eine Rodelbahn aus Kunstschnee.
Als Steinmeier ankommt, winkend auf dem Oberdeck eines roten Busses, bemerkt ihn zunächst fast niemand. Dann doch etwas Jubel. Im Hintergrund läuft „Beautiful Day“ von U2, aber wer in das Gesicht von Wahlkampfchef Kajo Wasserhövel schaut, ahnt, dass das hier nicht jeder so sieht. Berlins Regierender grüßt pflichtgemäß den „zukünftigen Kanzler der Bundesrepublik“ – und man denkt, dass der nächste SPD-Regierungschef eher Klaus Wowereit heißt als Frank-Walter Steinmeier.
Der Zustand der SPD wirft die Frage auf, was nach dem Wahlabend passiert. Kommt es zum großen Wechsel? Greift Oppositionsführer Steinmeier nach dem SPD-Vorsitz? Welche Rolle wird Andrea Nahles spielen? Und was macht Wowereit? Über den waren zuletzt ein paar große Zeitungsstücke erschienen, in denen seine bundespolitische Zukunft ausgemalt wurde. Es soll darüber kaum Freude in der SPD-Zentrale geherrscht haben. Der Eindruck, dass Wowereit der bessere Wahlkämpfer ist, blieb.
Das ist der dritte Grund: Steinmeier kann nicht Wahlkampf. Wenn er, als Außenminister und Vizekanzler beschützt von Bodygards, lächelnd durch die Menge schreitet, fällt das nicht auf. Aber die Bilder, die in den Köpfen der Menschen hängen bleiben, die entstehen im Fernsehen. Bei Anne Wills Erniedrigungsspektakel nach der Europawahl oder beim Townhall Meeting von RTL und Spiegel TV. Eine absurde Veranstaltung, in der jemand wie Steinmeier immer schlecht aussehen wird mit seiner antrainierten persönlichen Ansprache: „Wie ist ihre sonstige Belastungssituation?“
Merkel ist zwar auch keine große Charismatikerin. Aber sie führt um Längen, kann die Sozialdemokraten abtropfen lassen. Sie muss nicht kämpfen. Nur stillhalten. „Ich halte nichts davon, davon zu leben, dass man den anderen für dumm erklärt“, hat sie erklärt, als die SPD den Wahlkampfton verschärft hat. Die Sozialdemokraten sagen dann immer, Merkel dürfe es nicht gelingen, die Menschen „einzulullen“ und sich dem Wahlkampf zu verweigern.
„Wir zeigen uns mit unserem Würfel“, sagt Steinmeier auf dem Potsdamer Platz, so als ob das besonderen Mut verlange. Dann steigen Luftballons auf, rote Tücher werden weggezogen und zum Vorschein kommt – ein aufgemotztes 3-D-Plakat mit Infotisch darunter. Die SPD will „ihren Führungsanspruch im modernen Wahlkampf“ bekräftigen. Wenigstens den.
Kommentare 9
Ja, auf den erfrischenden geist von andrea nahles hatte ich mal gehofft, vor jahren, als sie im begriff, nach dem vorstandssitz zu greifen ... Dann wurde sie von der altherrenriege geräuschvoll zurückgepfiffen und ist seitdem wie ausgewechselt, unergründlich, wo ihr revoltierender geist geblieben, kaum zu glauben, daß sie mal als "spd-linke" gegolten, und: glauben Sie noch daran?
Um hier nicht übermäßig zu lästern habe ich es in einen Artikel gepackt: Die SPD und der Märklin-Effekt
"In früheren Jahrzehnten waren sich die Sozialdemokraten ihres gesellschaftlichen Ortes, ihrer sozialen Ursprünge und materiellen Interessen sicher. Diese Gewissheit und Übereinstimmung von Ort, Subjekt und Ziel existiert nicht mehr.“ Geschrieben hat das der Politikwissenschaftler Franz Walter, als Kurt Beck noch Parteivorsitzender war. Beck ist längst weg, aber das Problem ist geblieben."
Tatsächlich ist der "Ort" der Sozialdemokratie neu bestimmt worden. In vielen Jahren der Transformation der "europäischen Sozialdemokratie" (Oliver Nachtwey), machte dies auch bei den deutschen ehem. demokratischen Sozilisten nicht halt.
Die großen Transformationphasen dieser alten Parteienmutter liegen lange zurück. In der Zeit nach vor Godesberg nach Godesberg und in den 70ern. Die heutige Sozialdemokratie interpretiert die Situation anders. Soziale Gerechtigkeit ist nicht Ergebnisgleichheit. Der Markt ist ein sinnvolles Effektives Instrument zur Verteilung, er muss nur gesteuert werden. Das ist die Sozialdemokratie von heute.
Die Veränderung zur Volkspartei war ein wichtiger Schritt zur Regierungsmehrheit, den die SPD bis (zum Programm von Bad Godesberg) dahin nie erreichte, dafür aber ein recht stabile Wählergemeinschaft.
Doch heute wird der Kapitalismus wird nicht kritisiert, er wird genutzt und muss nur gestaltet werden. Chancengleichheit ist heute der Kern der "Gerechtigkeitsdebatte" der SPD.
Und die jungen Aktivisten? Wachsen mit dieser neuen Interpretation heran. Juso bedeutet bei vielen nicht mehr Junge Sozialisten, sondern junge Sozialdemokraten. Und die Basis in den Ortsvereinen? Im Durchschnitt in einem Alter, dessen Verständnis von Sozialdemokratie in 50ern und 60ern geprägt und konserviert wurde.
Der große wirkliche Ruck der Veränderung durch die Agenda 2010 hat sie irriert. Das Kämpfen dagagen, hat sie Müde gemacht. Das ist die "neue Volkspartei".
Nicht die "Kämpfer" sind wichtig. Die Wähler sind es. Und in der Mitte gibt es die meisten. Die sind aber längst nicht aus den klassischen Milleus. Sind nicht von einer selbstverständlichen gesellschaftlichen Ortung Ihrerselbst geprägt. Auch wenn sie aus diesen Milleus abstammen, so haben auch die Sozialdemokraten in ihrer Politik die Wanderung in "bessere Verhältnisse" für diese Kohorten erreicht.
Diese Millieu ist so volatil, dass der Kampf um diese Gruppen von der gesellschaftlichen "Tages"-Meinung -durch die Medien geputscht- angetrieben wird. Damit werden Programme für "den Wähler" nur nuanciert verschieden wahrgenommen. Damit wird es erst recht in einer großen Koaltionen schwieriger Profil zu zeigen und sich abzusetzen. Die anderen müssen nur "die Füße still halten". Und die Mitte ist heute nicht das Klassenkampfmillieu. Diese können nicht in der Arbeiterrethorik.
Heute wären die Werte der alten Arbeiterpartei für die SPD traumhaft. Doch der Zug der "Arbeiterpartei" ist weg und kann nicht mehr erreicht werden, dank ihrer eigenen Politik.
Das Volksparteiensterben, kann für die SPD kurz und schmerzhaft sein. Für die Union wird das schleichende Strerben es ein langsamerer qualvollerer Weg.
Für die Sozialdemokraten kann es nur noch aufwärts gehen? Nein - es kann und muss noch weiter abwärts gehen. Nur in der Opposition könnte die SPD vielleicht doch noch zur Besinnung kommen und endlich begreifen, dass sie als rosarote FDP nicht gebraucht wird.
Lieber Tom Strohschneider,
vielen Dank für deine Anregung für meinen folgenden Blog Beitrag:
20.08.2009 um 23:05 Joachim Petrick
Lafontane Duldungsstarre! SPD- Dauerlauer des nächsten Ulla Koller.
Lafontane Duldungsstarre!, oder SPD- Dauerlauer des nächsten Ulla Koller.
“Last Order! Double Bind Stones „Steinbrück, Steinmeier“
tschüss
JP
mein weiterer Blog Beitrag als Kommenta:
www.freitag.de/community/blogs/joachim-petrick/last-order-double-bind-stones-steinbrueck-steinmeier-klar
21.08.2009 um 14:23 Joachim Petrick
“Last Order! Double Bind Stones „Steinbrück, Steinmeier“ Klar!
"Last Order! Double Bind Stones "Steinbrück, Steinmeier" Na Klar!, hauens alphabetisch sortiert, in alphabetisierender Reihenfolge raus!
JP
Wo kann ich unterschreiben?
Allerdings auch einen Einwand. "Heute wären die Werte der alten Arbeiterpartei für die SPD traumhaft. Doch der Zug der "Arbeiterpartei" ist weg und kann nicht mehr erreicht werden, dank ihrer eigenen Politik." Wenn dem so wäre, würde die Linke fröhlich Prozentpunkte sammeln. Dem ist nunmal nicht so. Es wird wohl - meine Vermutung - auch daran liegen, dass das Nichtwählervolk nicht mehr glauben mag, dass jemand ernsthaft diese Werte (noch/wieder) vertitt.
Leicht unsachlich, aber wir haben ja Wahlkampf.
Käme sie nicht automatisch in die Offensive, wenn sie aus ihrer (Orientierung-)Sinnkrise heraus finden würde. Es ist nicht der Feind, der "Links" steht, es ist der eigene Inhalt mit neuem Namen.
Was ist daran unsachlich, dass über 1 Million Menschen vollzeitarbeiten und davon nicht leben können. Das ca. 1 Million Arbeitsplätze mit sozialer Sicherung in ungesicherte umgewandelt worden sind. Das Arbeitsplatzbesitzer erpressbarer geworden sind durch den drohenden Absturz in HARZ4.
Das die Löhne auf breiter Front gesunken sind und die Leute trotzdem mehr als früher arbeiten müssen. Das die dritte Welt ein Stück in Deutschland heimisch geworden ist.
Das diese Menschen sich gedemütigt und verarscht vorkommen hat mit Wahlkampf nichts zu tun , aber viel mit einer aufscheinenden Perspektive.