Wenn Franz Müntefering noch einen Beweis sucht, dass Opposition kein Mist ist, muss er sich nur seinen Nachfolger anschauen. Wer Sigmar Gabriels Auftritte der vergangenen Wochen verfolgt hat, erlebte einen SPD-Vorsitzenden, den keine Knieverletzung davon abhalten konnte, Attacken auf die Bundesregierung zu fahren. Wann immer sich die Gelegenheit bot, und notfalls auch ohne eine solche, setzte Gabriel der Kanzlerin zu, verlachte sie als „oberste Animateurin“ und „Geschäftsführerin einer Nichtregierungsorganisation“.
Nun mangelte es dem obersten Sozialdemokraten noch nie an Selbstbewusstsein und rhetorischem Geschick. Nur standen die darstellerischen Begabungen des 50-Jährigen, der im vergangenen November an die Spitze der SPD aufrückte, bisher
te, bisher in einem deutlicheren Kontrast zum Zustand der Partei. Deren Zustand hat Gabriel noch im Herbst 2009 als „katastrophal“ beschrieben. Seit die SPD allerdings ihre Wahlniederlage in Nordrhein-Westfalen zur „Trendwende“ umgedeutet, sich der Umfrage-Abstand zur Union seit der Bundestagswahl halbiert und die SPD-Spitze mit der Nominierung von Joachim Gauck einen strategischen Coup vorgelegt hat, wächst der Glaube in eine optimistische Botschaft: „Die SPD ist zurück.“Ist sie das? Es gibt Leute, die sagen, in der Mediendemokratie sei es nicht so entscheidend, ob eine Partei tatsächlich Erfolge vorweisen kann – wobei ohnehin umstritten ist, was dafür ein Kriterium ist. Es reiche vielmehr bereits, wenn sie in der Öffentlichkeit nicht heruntergeschrieben wird, wie es die SPD zu Zeiten von Kurt Beck erlebt hat.Zurzeit steckt Schwarz-Gelb im Demoskopenloch und die SPD steigt in den Umfragen, je länger sie darauf hinweist. Olaf Scholz sieht dennoch „keine geliehene Stärke, obwohl die Regierung so schlecht dasteht“. Worin die eigene Kraft bestehen soll, aus welcher Quelle der Erneuerung sie sich speist, sagt der SPD-Fraktionsvize nicht. Und bei genauerem Hinschauen verliert das Bild der wieder erstarkenden Sozialdemokratie auch schnell seine Konturen.Entfremdung, FarblosigkeitAls vor ein paar Tagen eine Studie über die SPD-Ortsvereine bekannt wurde, zeigte sich Gabriel entsetzt – und man fragte sich, ob der gelernte Berufsschullehrer wirklich geglaubt hatte, die Ergebnisse würden anders ausfallen: „Profil- und Farblosigkeit“, „Entfremdung der Partei von Mitgliedern und Bevölkerung“, eine Basis, die immer weniger aktiv ist, kaum Kontakt zu anderen Organisationen pflegt und immer älter wird. Gabriel ist seit 1977 SPD-Mitglied und dürfte aus seiner Zeit als Vorsitzender des Ortsverbandes Goslar noch eine Ahnung davon haben, was sozialdemokratisches „Parteileben“ heißt. Wenn er Überschriften wie „SPD-Basis rechnet mit Führung ab“ lese, hat Gabriel später vor Kreisvorsitzenden gesagt, könne er nur fordern: „Bitte rechnet möglichst häufig mit uns ab!“Man kann solche Sätze als typisch ansehen. Seit der Ex-Ministerpräsident und Ex-Minister den Chefsessel der kriselnden SPD übernommen hat, gehört die Pflege der Basis dazu, die vorauseilende Selbstkritik ist so etwas wie ein Führungsstil. Es wäre ungerecht, das als bloße Masche abzutun – man fragt sich aber, wo die längst angekündigten Konsequenzen bleiben. Damit ist nicht nur die Parteireform gemeint, die das organisatorische Innere der SPD renovieren soll. Sondern vor allem die programmatische Erneuerung, die strategischen Weichenstellungen.Es sei nun endlich „eine ehrliche Aufarbeitung der Regierungszeit“ notwendig, hat der SPD-Distriktvorsitzende Erlangen-Ost unlängst in einem Brief an die Berliner Parteizentrale geschrieben. Die Forderung begründete zugleich, warum die mittelfränkischen Genossen an der Mitgliederbefragung erst gar nicht teilnehmen wollten: Kritische Positionen fänden „in dem Fragebogen mit seinen suggestiven Formulierungen“ keinen Niederschlag. Diese Meinung mag zugespitzt sein, sie illustriert jedoch ein verbreitetes Gefühl an der Basis, in Gewerkschaften und bei früheren Wählern.Der Coup mit Gauck„Jetzt wieder Flaute?“, fragt sich die basisorientierte Arbeitsgemeinschaft der Sozialdemokraten, die am Wochenende in Hannover tagt und über die Zukunft der „Re-Sozialdemokratisierung“ diskutieren will. „Obwohl Diskussionen jetzt wieder zugelassen werden“, kritisierte Ende Mai Björn Böhning auf einer Tagung zum zehnjährigen Bestehen der eher Apparate-orientierten SPD-Linken, „kommt es nicht dazu.“Wohl auch, weil die Balance zwischen Vergangenheitsbewältigung und Zukunftsdiskussionen schwierig zu halten ist. Aber viele werden an Erneuerung erst glauben, wenn die Partei sich von symbolisch aufgeladenen Einschnitten wie den Hartz-Reformen und der Rente mit 67 lossagt. Ähnliches gilt für das immer noch ungeklärte Verhältnis zur Linken. Weil in dem innerparteilichen Lager, aus dem Gabriel kommt, eher die „sozialliberale“ Bündnisvariante bevorzugt wird und Seeheimer wie Netzwerker sich selbst in einer großen Koalition wohler fühlen als mit der Linken an einem Kabinettstisch, wird auch in der „neuen SPD“ kaum ein Schritt getan, die Selbstblockade im Mitte-Links-Spektrum zu lockern.Joachim Gaucks Nominierung gegen Gabriels alten Widersacher Christian Wulff, der ihn 2003 vom Ministerpräsidentenstuhl in Niedersachsen stieß, hat das gezeigt. So geeignet der Schachzug auch sein mag, weiteren Sand ins schwarz-gelbe Getriebe zu streuen, so wenig ist es ein Beitrag für einen Politikwechsel. Der wird nämlich nicht aus den Trümmern einer schwarz-gelben Regierung gebaut, sondern bräuchte ein neues Fundament – auch in der SPD des Sigmar Gabriel.