Der knappen Mitteilung aus Erfurt ist ihre Bedeutung für die Tariflandschaft nicht auf den ersten Blick anzusehen, zumal die Überschrift in die Irre führt: "Grundsatz der Tarifeinheit". Denn genau der ist am Mittwoch vom Bundesarbeitsgericht gekippt worden: „Es gibt keinen übergeordneten Grundsatz, dass für verschiedene Arbeitsverhältnisse derselben Art in einem Betrieb nur einheitliche Tarifregelungen zur Anwendung kommen können.“ Mit anderen Worten: In ein und demselben Unternehmen sind künftig mehrere Tarifverträge nebeneinander möglich.
Mit dem Beschluss haben die obersten Arbeitsrichter ihre langjährige Rechtssprechung korrigiert. Die Entscheidung macht den Weg für mehr Konkurrenz unter Gewerkschaften frei. Die Arbeitgeber fürchten nun häufigere Streiks, der DGB den weiteren Aufstieg kleiner Spartengewerkschaften. Ausnahmen gab es auch vorher schon. Aber vor allem der lange Arbeitskampf der Lokführer, der gegen die Bahn AG gerichtet war, aber auch im Konflikt mit der DGB-Organisationen Transnet ausgetragen wurde, hob vor drei Jahren die Frage nach der Zukunft des Grundsatzes der Tarifeinheit auf die Tagesordnung. Die einen machten die verfassungsrechtliche Koalitionsfreiheit geltend. Die anderen warnten vor unbeherrschbaren Verhältnissen oder, wie etwa die Linkspartei, vor Lohndumping. Und weil es eine Wende der Rechtssprechung mit Ansage war, ist längst auch der Streit um die Konsequenzen entbrannt.
Bereits Anfang des Monats waren DGB und der Arbeitgeberverband BDA in die Offensive gegangen. In einem gemeinsamen Papier wurde in Erwartung der Erfurter Entscheidung vorgeschlagen, die Tarifeinheit gesetzlich zu regeln. Der Vorschlag: Sollten sich in einem Betrieb konkurrierende Lohnverträge unterschiedlicher Gewerkschaften überschneiden, soll nach dem Willen von DGB und BDA nur die Regelung zur Anwendung kommen, die von der Gewerkschaft abgeschlossen wurde, die mehr Mitglieder in dem Unternehmen hat. Für die kleineren Gewerkschaften würde während der Laufzeit Friedenspflicht gelten. Tarifpluralität in einem Betrieb sei weiter möglich – aber nur, wenn sich die Geltungsbereiche nicht überschneiden und sich die verschiedenen Tarifparteien – also Arbeitgeber und Gewerkschaften – darauf verständigen.
Kritik von den Spartengewerkschaften
Aus der Bundesregierung waren seinerzeit vorsichtig positive Signale zu vernehmen. Im Arbeitsministerium war von einer „gewissen Sympathie“ für die DGB-BDA-Initiative die Rede. Ein Sprecher der Bundesregierung hatte schon zuvor erklärt, ein Ende der Tarifeinheit könne sich „negativ auf die erfolgreich praktizierte Sozialpartnerschaft“ auswirken. Gleichzeitig stieß der Vorstoß aber auch auf heftige Kritik: bei den Spartengewerkschaften. Die Flugbegleiter etwa warfen dem DGB vor, sich damit unliebsame weil erfolgreiche Konkurrenz vom Leibe halten zu wollen. Die Arbeitgeber, so der UFO-Tarifexperte Joachim Müller, hätten „natürlich ein Interesse an einem möglichst niedrigen Lohnniveau und einer höheren Produktivität auf Kosten der Mitarbeiter“, was „mit den DGB-Gewerkschaften am Tariftisch wohl leichter zu erreichen“ sei. Kritik kam auch von den Lokführern, die von einer „Allianz aus Arbeitgebern, die Löhne drücken wollen und den DGB-Gewerkschaften, die seit Jahren einen rapiden Mitgliederschwund aufweisen“ sprachen.
Tatsächlich haben Spartengewerkschaften wie jene der Lokführer und Flugbegleiter für einzelne Berufsgruppen in der Vergangenheit bessere Abschlüsse erzielt und ihren Organisationen damit Zulauf verschafft. Und zwar zum Ärger des DGB, dem die Mitglieder davonlaufen. Die tarifpolitische Defensive der Dachverbands-Gewerkschaften hatte aber auch Gründe, die nicht allein mit den überzogenen Hoffnungen von Funktionären auf ein Entgegenkommen der Unternehmen (Stichwort: Arbeitsplatzsicherung) oder mit falschen Erwartungen an die längerfristigen Resultate korporatistischer Einbindung (Stichwort: asymmetrische Arrangements) beschrieben werden können.
Es gibt aber auch so etwas wie ein Dilemma der Solidarität: Der DGB kümmert sich nicht nur um Funktionseliten, die Unternehmen aufgrund ihrer Stellung in der Arbeitsorganisation viel einfacher unter Druck setzen können, sondern auch um jene Heerscharen von Beschäftigten, die an einem weit kürzeren Hebel sitzen. Das soll die berechtigte Kritik an seinen Mitgliedsgewerkschaften nicht schmälern. Man muss das aber mitdenken, wenn man dem Dachverband geringere tarifpolitischen Erfolge vorhält. Zumal es auch eine Unterbietungskonkurrenz von „gelben“ Gewerkschaften gibt, die bisweilen gleich ganz das Geschäft der Unternehmen besorgen.
Sein Bündnis mit dem BDA eines Dieter Hundt sollte der DGB trotzdem noch einmal überdenken. Kooperationen dieser Art können sich als Teufelspakt erweisen. Michael Sommer muss sich auch vorhalten lassen, wie der „gemeinsame“ Vorstoß kommuniziert wurde: als Beitrag zu Ruhe, Streikverhinderung und sozialem Frieden. Und das in Zeiten, in denen der DGB eigentlich gegen das schwarz-gelbe Sparpaket mobil machen wollte. Die Warnung vor „englischen Verhältnissen“ durch Hundt ist zudem nicht anders zu verstehen, denn als Affront gegenüber der Konfliktbereitschaft britischer Beschäftigter im „Winter of Discontent“ von 1978 und 1979. Eine Schwemme neuer Spartengewerkschaften wird ohnehin nicht erwartet. Und vergessen wird auch, mahnen Beobachter, dass Arbeitgeber wie die Lufthansa Spartengewerkschaften so lange wohlwollend toleriert haben, wie ihnen die damalige ÖTV zu stark wurde. Unbeantwortet bleibt bei dem Vorschlag von DGB und BDA zudem, wie die größere Gewerkschaft in einem Betrieb ermittelt werden soll: Es hat gute Gründe, dass die Unternehmen ihre Mitarbeiter bisher nicht nach ihrer Gewerkschaftszugehörigkeit fragen dürfen.
Beschäftigte würden sich immer dort organisieren, wo sie sich am besten vertreten fühlen, hat einer der DGB-Kritiker in der Diskussion um die Tarifeinheit erklärt. Der Dachverband ist gut beraten, darauf nicht bloß mit Abwehr zu reagieren. Sondern die im Gewerkschaftsverband ja durchaus laufende Debatte (etwa hier) über die Möglichkeiten einer neuer Offensive voranzutreiben: nicht nur auf dem Tariffeld, sondern auch gesellschaftspolitisch.
Kommentare 4
Die DGB-Gewerkschaften haben in seit 30 Jahren in wesentlichen Grundlagen versagt, man kann es nicht anders sagen.
Sie haben das Prinzip "Produktivitätsfortschritte ind Arbeitszeitverkürzungungen umsetzen" aufgegeben und damit die politisch gwollte stetig ansreigende Erwerbslosigkeit unterstützt.
Sie nicht unternommen gegen eine Politik, die Zuhältern ("Zeitarbeit") die fats vollständige Kontrolle über den Arbeitsmarkt einräumte.
Mal einen sogennaten Tarifvertrag mit IGZ und BZA zu unterzeichnen, in dem die kaufkraftbereinigten Leiharbeiterlöhne sinken, war keine Gewerkschaftsarbeit, sondern Gehorsam gegenüber dem Agenda-2010-Regime.
Sie haben nichts unternommen gegen den Trend, unbezahlte Mehrarbeit von Restbelegschaften zu fordern.
Ist überhaupt bekannt, wieviele Firmen in den vergangenen 20 Jahren aus dem Tarif ausgestiegen sind? Dem hat der DGB nichts entgegengesetzt. Es hätte bei jedem Ausstieg aus dem Flächentarfif sofort ein Streik für einen Haustarif stattfinden müssen.
Und jetzt sagen sie: Im Herbst, wenn die neue Armutsverschärfung längst beschlossen und Gesetz sein wird, dann werden wir aber protestieren.
Auch das findet an der Basis keine ungeteilte Zustimmung, nur nach aussen wird Friedhofsruhe demonstriert.
Die GDL zeigte ein gewrkschaftliches Selbstbewusstsein, das den DGB-Hewrkschaften längst abhanden gekommenn ist. Und sie fand Solidarität im Ausland: Als die Deutsche Bahn AG in Österreich und Tschechien Lokführer als Streikbrecher ausleihen wollte, haben das die dortigen Gewerkschaften verhindert.
Vielleicht kann die GDL sich erweitern zur Gewerkschaft der Eisenbahner?
Es müssen mehr echte Gewerkschaften gegründet werden.
Es ist allerhöchste Zeit für die Gründung einer Leiharbeitergewerkschaft, die dort auch echte Betriebsräte in Funktion setzen könnte und spezielle Methoden des Tarifkampfes in der Leiharbeit entwickeln kann.
Und wir baruchen mehr europäische Gewerkschaftsorganisation. Die Franzosen wären auf unserer Seite, wenn wir mal den A.... hochkriegen...
Je mehr Gewerkschaften es gibt, die wieder das tun, was der Zweck einer Gewerkschaft ist, um so eher wird im DGB das Prinzip: "Friede den Palästen, Krieg den Hütten" aufgegeben. Oder er stirbt ab..
Gewerkschaften, die besser für die Beschäftigten eintreten als die DGB-Gewerkschaften, sind gut. Aber im oben genannten Artikel Der Linken »Wer Grundsatz der Tarifeinheit in Frage stellt, öffnet Lohndumping Tür und Tor« ist die Kehrseite ausgeführt, nämlich dass es Pseudo-Gewerkschaften gibt, die explizit die Interessen der Unternehmen vertreten. Den Grundsatz "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit", den kann man da ganz vergessen.
Und wie claudia schon geschrieben hat, bräuchte es Gewerkschaften, die sich explizit auch für Leiharbeiter bzw. prekär Beschäftigte einsetzen. Das können neue Gewerkschaften sein, oder DGB-Gewerkschaften, die ihre Zuständigkeit ausweiten. Gerade Beschäftigte mit einer schwachen Stellung brauchen starke Interessenvertretungen.
»Und wir baruchen mehr europäische Gewerkschaftsorganisation. Die Franzosen wären auf unserer Seite, wenn wir mal den A.... hochkriegen...«
Da habe ich leider keine große Hoffnung für Deutschland, weder was die Gewerkschaften, noch was die Beschäftigten betrifft.
»Und jetzt sagen sie: Im Herbst, wenn die neue Armutsverschärfung längst beschlossen und Gesetz sein wird, dann werden wir aber protestieren.«
Ja, jetzt müsste bundesweit im großen Stil protestiert werden. Die Bundesregierung hat das Sparpaket zudem zeitstrategisch günstig für sich vorgestellt, denn jetzt sind die Deutschen mit der Fußball-WM beschäftigt.
Wenn man wie ich mehr als 40 Jahre in der Gewerkschaft ist(Transnet), früher auch Gewerkschaft der Eisenbahner, hat man eine Menge miterlebt und auch runtergeschluckt.
Die Einheitsgewerkschaft ist eine grosse Errungenschaft. Der einheitliche Tarif auch, sie nutzen allen Beteiligten.
Wenn es, wie bei uns, der Bahn geschehen, zur Entwicklung einer Spartengewerkschaft kommt, hat dies natürlich Gründe.
Meine Gewerkschaft hat noch nicht einmal geschlafen, sie hat gemeinsame Sache gemacht. Mit dem damaligen Bahnchef Mehdorn. Der damalige Vorsitzende Hansen hat das getan, was viele Sozialdemokraten manchmal tun, Sie glauben, das wenn man die Interessen der Kapitalseite bedient, kommt irgentwann die Belohnung.
10 lange Jahre wurde fast jeder Wunsch erfüllt.
Ob Verlängerung der Arbeitszeit, streichen und kürzen von Zulagen, Neudefinition von Arbeitszeit, Lohnsenkung. Alles wurde erlaubt. Hauptsache ihr habt Arbeit.
Der Lohn für den Gewerkschaftsvorsitzenden hat man ja am Ende besichtigen können.
Erst die Abhöraffäre lies die Hauptbeteiligten stolpern und schlussendlich stürzen.
In dieser prekären Situation, der Erduldung von Demütigung und regelrechter Ausbeutung fanden sich Kräfte, die den Beschäftigten ihre Lage vor die Augen hielten und sprachen, wollt ihr Euch das länger gefallen lassen?
Eine wesentliche Funktionsgruppe, in diesem Fall die Lokführer, wurden geweckt.
Die Stimmung in den Abteilungen stand eh unter Dampf, und so nahm die Sache ihren Lauf.
Das Versagen der Transnet hatte eine neue Gewerkschaft erschaffen, bzw aus ihrer Letargie geholt.
Und so hat man dann für 10 Jahre Lohn nachgefordert. Eine irre Zahl, 33%. Ich muß heute noch schmunzeln.
Ein uralter Erfahrungssatz sagt, wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte.
Es ist deshalb wichtig,der Kapitalseite eine einheitlich Meinung entgegen zu setzen.
Letzendlich sind mehrere Gewerkschaften in einem Betrieb stets von Vorteil für die Arbeitgeber.
Sie können sich die billigste auswählen.
Wenn jetzt sogar der Hundt von einheitlichen Tarifen begeistert ist, kann er nur den niedrigsten meinen, den höchsten könnte er auch so zahlen, keine Gewerkschaft würde ihn daran hindern.
>>Meine Gewerkschaft hat noch nicht einmal geschlafen, sie hat gemeinsame Sache gemacht. Mit dem damaligen Bahnchef Mehdorn.
Und Transnet ist mit dem Prinzip: "Konsensus über alles" und "für den 'sozialen Frieden' ist kein Opfer zu gross" leider nicht die einzige Gewerkschaft. Die IG BCE ist auf dem gleichen Trip. Sie hat noch nicht mal den grossen europaweiten Aktionstag gegen Sozialabbau 2003 unterstützt, obwohl auch in jenem Jahr Mitglieder betroffen waren. Wer die Kündigung bekommt, existiert nicht mehr, basta.
In München war verdi wieder mal die einzige Gewerkschaft, die Busse zur Demo nach Stuttgart organisiert hatte.
verdi ist eher die Ausnahme und nicht die Regel im DGB.
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Die Einheitsgewerkschaft und der Einheitstarif sind eine gute Sache. Das habe ich auch immer so gesehen. Aber nur, solange das nicht gegen uns instrumentalisiert wird.
>>Wenn jetzt sogar der Hundt von einheitlichen Tarifen begeistert ist, kann er nur den niedrigsten meinen, den höchsten könnte er auch so zahlen, keine Gewerkschaft würde ihn daran hindern.
Das ja. Was aber passiert, wenn eine Mitgliedergewerkschaften für sich kämpft und Arbeitgebergewerkschaften für die Obrigkeit? Die Mehrheit schliesst sich der Gewerkschaft an, die für sie gut ist.
Das habe ich in den 70er Jahren mit dem "christlichen Gewerkschaftsbund" erlebt. Ein Arbeitgeber kann immer nur einige Wenige für ihr Wohlverhalten mit besseren Jobs belohnen. Die Mehrheit blieb den CGB-Gewerkschaften fern und hielt sich an die IG Chemie, Papier, Keramik. Und die wenigen CGB-Mitglieder hatten dann eben auch den IG-Chemie-Tarif.
Ähnliches habe ich mal in Kalihütte im Elsass erlebt. Es gab drei Gewerkschaften: Die grösste war die CGT, auch noch recht stark die CFDT, und dann gab es die Arbeitgebergewerkschaft. Aber das Mitglied konnte man nicht sprechen, denn der Kollege war gerade im Urlaub. :-)
Da kann der Hundt-Verband noch so viele "Gewerkschaften" in die Welt setzen: Wenn die nichts Gutes für die Arbeitenden wollen, dann sind sie auch nicht attraktiv.
Dass DGB und Hundt gemeinsame Sache gegen die GDL machen und der AGV seine eigenen "Gewerkschaften" gar nicht mehr braucht: das zeigt ja gerade, wo das das Problem liegt.
Die DGB-Gerwerkschaften könnten wieder mehr Mitgleider gewinnen, wenn sie ihren Kuschelkurs mit der "Arbeitgeber"-Seite und Armutsregime aufgäben.
Zum Beispiel macht man sich eben nicht nur Freunde, wenn man jedes Mitglied, das gekündigt wird, fortan als "sozial schwach" diffamiert und Schwächetarife mit Leiharbeitsfirmen abschliesst. Das ist Systemstabilisierung, und immer mehr Menschen, die in die Not getrieben werden, durchschauen das auch...