Düsseldorf und die DDR: Rot-rot-grüne Selbstblockade mit System

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Nach dem Scheitern der rot-rot-grünen Sondierung treibt die Gemeinde auf der Suche nach möglichen Regierungsbündnisse nun die nächste Sau durchs mediale Dorf: Welcher der beiden Verlierer vom 9. Mai darf den Chefsessel einer großen Koalition beanspruchen? Und während Hannelore Kraft das Publikum mit der Rede von einem „Politikwechsel“ beleidigt, ein Jürgen Rüttgers sich Hoffnungen macht, ist dem Eklat vom Donnerstag bereits ein Etikett verpasst worden, abschließend und endgültig: Die Linkspartei ist weder regierungsfähig noch koalitionswillig, sie hat Probleme mit der Demokratie - vor allem aber mit der Geschichte.

Auf den ersten Blick macht es nicht viel Sinn, sich damit noch einmal ernsthaft zu beschäftigen. Schon vor dem Sondierungstreffen war der Eindruck entstanden, dass vor allem die SPD gar nicht ernsthaft über eine landespolitische Wende reden wollte. Nicht nur die „Kohle-Beton-Chlor-Fraktion“ hatte sich bereits tagelang eine große Koalition schöngeredet, auch bundespolitisch standen die sozialdemokratischen Signale gegen Rot-Rot-Grün. Einer „Intrige der SPD-Rechten“ gegen eine Mitte-Links-Koalition, von der hier und da die Rede war, hatte es wohl gar nicht erst bedurft. Am Tag der Sondierung stand in den Zeitungen, dass mindestens zehn SPD-Abgeordnete in Düsseldorf einem Bündnis mit der Linken nicht zustimmen wollen. Dass Hannelore Kraft die CDU bereits eingeladen hatte, als das inszenierte Rendezvous mit der Linken noch nicht einmal richtig beendet war, bestärkt den Eindruck von „Scheingesprächen“. Und was soll man von Grünen halten, die ihre Verhandlungsführerin am Tag der Sondierung in der Frankfurter Allgemeinen eine Drohung aussprechen lassen: „Die Linke müssen wir politisch offen bekämpfen.“

Kurzum: Lohnt es sich überhaupt, sich mit den nun erklärten Gründen für das Scheitern der Verhandlungen auseinanderzusetzen, wenn diese nicht anders denn als vorgeschobene angesehen werden können? Und der Zug ohnehin längst abgefahren ist? Es lohnt sich, denn die Reise könnte schon bald in Neuwahlen führen. Und außerdem handelt es sich beim Hinweis auf die geschichtspolitische Unverträglichkeit ja inzwischen um einen Standard rot-rot-grüner Selbstblockaden. Die Rede vom „Unrechtsstaat“ könnte schneller wieder auf den Tisch kommen, als mancher denkt. Spätestens bei der nächsten rechnerischen Mehrheit für Rot-Rot oder Rot-Rot-Grün. Und auch dann werden jene, die aus ganz anderen Gründen eine Kooperation mit der Linken ablehnen, erneut die DDR-Karte ziehen.

Linke Familiengeschichten

Mag sein, dass die „langatmigen Debatten über die Geschichte der gespaltenen deutschen Linken“ bei der Düsseldorfer Sondierung auch mit den Gründungsmotiven der Wahlalternative zu tun haben und auf einer persönliche Unverträglichkeit der handelnden Akteuren beruhen. Die neue Linke war und ist zu einem gewissen Teil Anti-SPD, die Kritik enttäuschter Sozialdemokraten an „ihrer“ Partei entzündete sich zwar in erster Linie an Schröders Agenda-Politik, sie wurde aber oft auch historisch „verlängert“. Man stritt im Holiday Inn „vom Rosa-Luxemburg-Mord über die KPD/SPD-Zwangsvereinigung bis zum KPD-Verbot in Westdeutschland“ über eine Reihe von emotional aufgeladene Fragen, die auch im Wahlkampf bereits symbolisch in Stellung gebracht wurden: Einige linke Kreisverbände hatten die alte Weimarer Parole „Wer hat uns verraten, Sozialdemokraten“ für ihre Plakate verwendet. Außerdem spielen Ex-Grüne wie Rüdiger Sagel eine wichtige Rolle in der NRW-Linken, was ebenso auf die Stimmungslage zwischen Dunkelrot und Grün drücken könnte wie die Tatsache, dass die Grünen zu einem Teil ihre Wurzeln in der DDR-Bürgerrechtsbewegung haben während die Linkspartei in der Öffentlichkeit als (mehr oder weniger entfernte) SED-Nachfolgerin markiert wird. Und schließlich mag eine Rolle spielen, dass sich manche Grüne im Westen im rückblickenden Selbstverständnis als Gegenmodell zur damaligen K-Gruppen-Szene verstehen, die ihnen nun in Gestalt der angeblich „ewigen Sektierer“ in der Linken wieder gegenübertritt.

Wer solche „gefühlten“ Barrieren, die viel mit der innerlinken Geschichte zu tun haben, allerdings für höher hält als jene gegenüber CDU oder FDP, Parteien also, die ebenfalls eine diskussionswürdige Vergangenheit haben und zumindest kulturell viel weiter entfernt sein dürften, muss sich vorhalten lassen, dass er wenigstens einen Teil der Gründe für das Scheitern der Gespräche mit der Linken konstruiert.

Zwei Motive aus der Düsseldorfer Runde vom Donnerstagnachmittag verdienen einen zweiten Blick: die Forderung nach dem Bekenntnis, bei der DDR handele es sich um einen Unrechtsstaat und die Frage der Berufsverbote in der Bundesrepublik. Auf letztere hatte die linke Verhandlungsdelegation immer wieder hingewiesen, es war ein Versuch, den geschichtspolitischen Konsens eines möglichen Bündnisses im Westen nicht ausschließlich über die Vergangenheit des Ostens zu definieren. „Nicht nur dass etliche heutige Linkspartei-Mitglieder selbst einst von der skandalösen Berufsverbotepraxis betroffen waren: Es ging für die Linkspartei um ihre Verpflichtung denjenigen gegenüber, in deren politischer Tradition sie sich im Westen versteht. Für ein Delegationsmitglied ist das auch eine ganz persönliche Frage: Zu den tausenden Kommunisten, die während der Adenauer-Ära wegen ihrer Überzeugung in den Knast gesteckt wurden, gehörte auch der Vater der Linken-Schatzmeisterin Nina Eumann“, schreibt Pascal Beucker in der Tageszeitung – eine seltene Ausnahme im medialen Einheitsbrei.

Demokratiefeindlich, antidemokratisch

SPD und Grüne wollten den Hinweis auf die Berufsverbote aber offenbar nur als Relativierung von DDR-Unrecht, als Aufrechnerei betrachten. Dabei saß mit Irmingard Schewe-Gerigk auf Seiten der Grünen sogar jemand mit am Sondierungstisch, der wie auch die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth vor gar nicht allzu langer Zeit einen Aufruf „gegen die Wiederbelebung der antidemokratischen deutschen Berufsverbotspraxis“ unterschrieben hatte – weil diese „gegen die Menschenrechte“ verstoßen. Die grüne Jugend nannte im vergangenen Jahr die Berufsverbot in einem Beschluss „demokratiefeindlich“ und verwies auf „unheilvolle Erfahrungen“. In der SPD hatte Willy Brandts Radikalenerlass von 1972 Debatten ausgelöst, schon auf dem Parteitag 1973 wurde „nach heftigen Diskussionen“ beschlossen, dass auch bei der Bekämpfung verfassungsfeindlicher Bestrebungen die rechtsstaatlichen Grundsätze beachtet werden müssten – und drängte auf Änderung. Noch in den neunziger Jahren verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Bundesrepublik wegen Berufsverboten zu Schadenersatz an eine Lehrerin, die wegen ihrer DKP-Mitgliedschaft aus dem Staatsdienst geflogen war. Die Richter sahen darin einen Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention – genauso wie das Russel-Tribunal oder die Internationale Arbeitsorganisation. Brandt selbst sprach später von einem Fehler.

Das alles dürften Hannelore Kraft und die Grünen gewusst haben, es hätte eine Kompromissformulierung ermöglicht, wenn diese denn gewollt gewesen wäre. Denn der Anspruch der Linken (sieht man jetzt einmal von allen taktischen Erwägungen ab, denen zufolge auch diese Partei ein paar Gründe gehabt haben könnte, die Sondierung scheitern zu lassen), eine geschichtspolitisch aufgeladene Präambel, die wie in Thüringen oder Brandenburg, zur Grundlage von Koalitionsverhandlungen hätte werden können, auf die Verhältnisse im Westen „anzupassen“, ist ja nicht völlig absurd und hat vor allem nichts mit „Aufrechnen“ zu tun. Man hätte es im Gegenteil sogar als Beleg für Aufrichtigkeit begrüßen können.

Die Frage der Berufsverbote ist allerdings eher ein Randthema – obwohl von den teilweise bis 1991 praktizierten Regelüberprüfungen rund 1,4 Millionen Menschen betroffen waren und in der Folge mehr als 1.000 mit Berufsverbot belegt wurden. Die Bewertung der DDR dagegen ist nicht nur in Düsseldorf zu einem der Hauptargumente gegen rot-rot-grüne Verhandlungen geworden. Die Formel vom „Unrechtsstaat“ hat teilweise schon Bekenntnischarakter: Bist du nicht bereit, das Wort zu benutzen, werde ich auch nicht mit dir reden. Selbst die Bereitschaft der Linken in NRW, die DDR als „Diktatur“ zu kennzeichnen, reichte nicht aus.

"Unrechtsstaat" schlimmer als "Diktatur"?

Ist „Unrechtsstaat“ schlimmer als „Diktatur“? Warum ritten die rot-grünen Unterhändler auf einem Begriff herum, von dem sogar der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages sagt, es gebe „keine haltbaren Definitionen“ und die Formel werde in der Regel benutzt, um die politische Ordnung eines Staates „moralisch zu diskreditieren“? Man erinnert sich an die Koalitionsbildung in Brandenburg. Im vergangenen Jahr kramten die Medien einen Aufsatz des damals noch designierten Justizministers der Linken Volkmar Schöneburg heraus. Der Jurist hatte 2002 in einem wissenschaftlichen Beitrag den Begriff „Unrechtsstaat“ als „unwissenschaftliche, moralisierende Verdrängungsvokabel“ charakterisiert und war deshalb medial als Verharmloser und Verdränger abgestempelt worden. Auf Schöneburgs Aufsatz konnte sich die Empörung gar nicht berufen, es ging allein um die symbolische Wirkung der Vokabel in der politischen Debatte. Schon Bodo Ramelow hatte das erfahren, der Thüringer Ministerpräsidentenkandidat war vor den Wahlen 2009 nicht bereit, den Begriff kritiklos zu verwenden – und handelte sich eine Kampagne ein. Die Liste solcher Beispiele ist lang.

Dabei befinden sich Schöneburg, Ramelow und auch die NRW-Linke in ihrer Haltung zum Begriff „Unrechtsstaat“ in bester Gesellschaft. Eine einigermaßen ernsthafte Befassung mit der Vergangenheit hat auch bei Historikern, die nicht im Verdacht einer besonderen Neigung für den SED-Staat stehen, zu ähnlichen Schlüssen geführt. Die Bundeszentrale für politische Bildung macht mit solchen Skeptikern sogar Staatsbürgerkunde. Plakative Kennzeichnungen wie „Unrechtsstaat“, schreibt etwa Christoph Kleßmann, vermögen „komplexe moderne Staatsgebilde kaum angemessen auf den Begriff zu bringen“. Bei Hans-Ulrich Wehler heißt es: „Auf der Ebene des ostdeutschen Strafrechts war die DDR kein ‚Unrechtsstaat‘.“ Und auch der Brandenburger Generalstaatsanwalt Erardo Rautenberg meint: Der Begriff des Rechtsstaates suggeriere, dass darin nur Recht geschehe, während der Begriff Unrechtsstaat nahe lege, dass in der DDR nichts als Unrecht geherrscht habe. Wäre das so gewesen, so Rautenberg, hätte man nach 1990 sämtliche Strafurteile aus DDR-Zeit kassieren müssen.

Juristisch und politisch: ein Unterschied

Zurück nach Düsseldorf. Dort heißt es nun, die Linke sei nicht bereit gewesen, jene Erklärung aus Thüringen zu unterschreiben, die 2009 zur Grundlage von Koalitionsverhandlungen zwischen SPD, Grünen und Linkspartei hatte werden sollen. Darin hieß es unter anderem: „Vor einer Aufarbeitung in die Gesellschaft hinein muss das Bekenntnis zur DDR als einem Staat stehen, der eine Diktatur war, der nicht nur kein Rechtsstaat war, sondern ein Willkürstaat, der in der Konsequenz Unrechtsstaat genannt werden muss.“ Bodo Ramelow, der damals für die Linke die Gespräche anführte, sprach später von einem guten Text, „der nicht in irgendwelchen Schubladen verschwinden soll“.

Allerdings kann man im Protokoll des 4. Erfurter Sondierungsgespräches vom 30. September vergangenen Jahres mit Blick auf den umstrittenen Begriff „Unrechtsstaat“ auch das hier lesen: „Die Beteiligten kamen zu dem Beschluss, das Papier der Grünen gemeinsamen zu einer Präambel für einen Koalitionsvertrag weiterzuentwickeln. Dabei war Konsens, dass eine Passage aufgenommen werde, die sich mit den beiden Definitionsrahmen – juristisch und politisch – auseinandersetze.“

Wäre das eine Kompromissvariante für Nordrhein-Westfalen gewesen? Hätte, könnte, müsste – die SPD wollte Rot-Rot-Grün nicht. Die Gründe dafür liegen nicht in der Vergangenheit.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Tom Strohschneider

vom "Blauen" zum "Roten" geworden

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