Ein unermesslich tiefes Loch

Auschwitz Die Politik begeht den Holocaust-Gedenktag. Ritualisiertes Gedenken sei besser als Vergessen, sagt der Zentralrat der Juden. Aber wo findet aktives Erinnern statt?

„Das Gefühl, das einen durchfährt, wenn man erfährt, dass der eigene Vater, die eigene Mutter, die Schwestern und der Bruder von den Nazis aufgegriffen worden sind, ist nicht zu beschreiben.“ Mit seiner Rede im Bundestag wird Zoni Weisz vielen Parlamentariern in Erinnerung bleiben. Nicht nur wegen der ergreifenden Geschichte seiner geglückten Flucht vor den Nazis. Sondern auch, weil erstmals überhaupt beim Staatsakt zum 27. Januar ein Vertreter der Roma und Sinti im Bundestag sprach und so dem „vergessenen Holocaust“, der in der Sprache der Roma Porajmos heißt, einen Platz in der Gedenkkultur einräumte. Er habe immer wieder Reden gehört, mit denen an das Schicksal der von den Nazis Verfolgten und Hingemordeten erinnert wurde, in denen von den Roma und Sinti aber nicht die Rede war. Eine halbe Million von ihnen waren dem von Deutschland ausgehenden Vernichtungsterror zum Opfer gefallen. Doch erst 1982 hat die Bundesregierung ihre planvolle Verfolgung überhaupt als Völkermord aus rassischen Gründen anerkannt.

„Jeder im Dritten Reich verfolgten Gruppe oder Minderheit wurde ein Denkmal gewidmet“, hat sich Hamze Bytyci von der Jugendorganisation Amaro Drom angesichts der „Farce“ um das in Berlin geplante Memorial in der Tageszeitung beklagt. „Nur bei den Sinti und Roma wird es immer wieder aus irgendeinem lächerlichen Grund verschoben.“ Weisz' Frage, ob denn etwa „die Opferzahlen ausschlaggebend für die Aufmerksamkeit“ seien, ist eine, die in den Diskussionen über das „richtige Gedenken“ an den Holocaust in den vergangenen Jahren nicht fehlte. Die Antworten darauf blieben unfertig, weil das Leid jedes einzelnen Naziopfers doch Anlass genug sein müsste, dass im Land der Täter daran erinnert wird. Zugleich da aber auch das Unbehagen angesichts eines „Denkmalwahns“ (Wolfgang Wippermann) ist, dessen steinerne Monumente über das tatsächliche Gedenken, die Motive der Erbauer, das praktische Erinnern, die alltägliche Kultur der rückblickenden Vergewisserung, des Lernens und so weiter nicht viel aussagt.


Der Historiker Wippermann hat einmal gefordert, nicht mehr so viel zu „denkmalen“, sondern mehr nachzudenken. Nun kommt nachdenken auch nicht von ungefähr und vielleicht helfen dabei ja sogar Denkmale. Authentische Erinnerungsorte seien jedoch viel besser, meint nicht nur Wippermann: „ein besserer Ort des Erinnerns und auch des Gedenkens und auch der Trauer“. Dieter Graumann hat am Donnerstag noch einmal dafür geworben, „dass mehr junge Menschen die Konzentrationslager besuchen“ und damit eine große Hoffnung verbunden. Wer als junger Mensch ein KZ besuche, sei ein Leben lang „immunisiert gegen das Gift von Rassismus und Menschenfeindlichkeit“. Mindestens aber müsste, um das Gedenken an den Holocaust wachzuhalten, mehr aktiver Anschauungsunterricht stattfinden.

Dazu gibt es inzwischen auch online zahlreiche Angebote. Shoa.de zum Beispiel, ein Portal zur wissenschaftlich-didaktischen Auseinandersetzung mit dem Holocaust, das von einer gemeinnützigen Initiative realisiert wird, vom ehrenamtlichen Engagement von Autoren lebt und auf aktive Mitgestaltung der Nutzer setzt. Stärker dem Aspekt der individuellen Schicksale und des persönlichen Gedenkens verpflichtet ist das Internetprojekt Zachor. Auf lokaler Ebene versucht seit einigen Jahren das Leipziger Gedenkbuch, die Namen aller vom NS-Regime ermordeten Leipziger zusammenzutragen. In Gelsenkirchen widmet sich eine Seite der Verfolgung und Ermordung von Sinti und Roma der Stadt. Oder die Holocaust-Chronologie des Journalisten Knut Mellenthin, der auf Hunderten Seiten eine Tag-für-Tag-Geschichte der Shoa präsentiert – die erste deutschsprachige dieser Art.

Gerade erst hat die israelische Holocaust-Gedenkstätte Jad Vaschem mit Unterstützung eines Internetkonzerns die Nutzungsmöglichkeiten seines Archivs erweitert – 130.000 Fotos sind seit dieser Woche online durchsuchbar, Notizen auf den Dokumenten werden so ebenso auffindbar wie nun die Möglichkeit besteht, Kommentare und Ergänzungen auf ihnen zu hinterlassen. Für Gedenkstättenchef Awner Schalew ist der Schritt, dem weitere folgen sollen, „Teil der Vision; das Wissen und die Informationen von Jad Vaschem mit neuer Technologie zu verknüpfen und sie der Jugend zugänglich zu machen“.

„Wir Juden“, sagt der Präsident des Zentralrats Dieter Graumann, „brauchen keinen Gedenktag“. Geprägt von den Erzählungen und Traumatisierungen seiner Eltern, sei für ihn jeder Tag ein Holocaust-Gedenktag. Das aktive Erinnern, das Graumann einfordert, ist nicht Sache der Opfer und ihrer Kinder, sondern müsste Selbstanspruch der Täter und ihrer Nachfahren sein. Ihm sei dabei auch ein ritualisiertes oder institutionalisiertes Gedenken lieber als planvolles Vergessen, so Graumann – wohl wissend, dass es nicht so sehr die Mahnmale und Staatsakte sind, aus denen gelebte Verantwortung vor der Geschichte entsteht. Sondern eher jene bewegenden Schilderungen wie die von Zoni Weisz, die ein persönliches Schicksal hinter dem abstrakten Grauen erfahrbar macht.

„Ich war allein und fiel in ein unermesslich tiefes Loch“, hat Weisz im Bundestag vom Bruch seines Lebens erzählt. Er, der als Siebenjähriger von einem holländischen Polizisten gerettet wurde, der seine Familie verlor, und der noch heute weiß, „wie herrlich weich sich der Mantel meiner Schwester anfühlte“.

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Geschrieben von

Tom Strohschneider

vom "Blauen" zum "Roten" geworden

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