Eine sechste Partei? Über Sarrazin und die 18-Prozent-Umfrage

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„Ich habe keine Partei im Sinn, ich habe Ideen im Sinn“, hat Thilo Sarrazin dem Focus verraten. „Mit denen kommt man zuweilen weiter als mit Parteien.“ Die Debatte der vergangenen Tage gibt dem Provokateur recht, das medial getriebene Monstrum ist inzwischen dort angekommen, wo seine „Thesen“ per tausendfachem „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“ normalisiert und seine Analyse als „im Kern richtig” veredelt wird. Unabhängig davon, was der „Volksheld Sarrazin“ (Spiegel) im Sinn hat, wird er so auch zum Parteien-Thema im eigentlichen Wortsinne: Die medial verstärkte Zustimmung wirft die Frage nach der Möglichkeit einer konkurrierenden Organisation auf. Emnid hat daraus im Auftrag des Kampagnen-Blattes Bild eine Umfrage gemacht: „Könnten Sie sich vorstellen, eine neue Partei zu wählen, wenn Thilo Sarrazin Vorsitzender dieser Partei wäre?“ Und siehe da, 18 Prozent könnten.

Was da als „Umfrage-Schock für Merkel und Gabriel“ verkauft wird, ist allerdings nicht besonders aussagekräftig. Man nehme eine öffentliche Erregung mit polarisierendem Charakter und eine Person, an der sich die Meinungen scheiden, stelle sie “theoretisch” zur Wahl – und wenn dann ein Anruf aus einem Callcenter kommt, sagt jeder Fünfte: Warum nicht? Die BamS/Emnid-Umfrage sagt weniger über die Zustimmung zu Sarrazins Nützlichkeitsrassismus aus, als über die Unzufriedenheit mit den Parteien, die schon da sind. Gefragt wurde nämlich auch, ob sich die Deutschen vorstellen könnten, eine Partei unter Führung des früheren Unionsfraktionschefs Friedrich Merz (20 Prozent) oder von Joachim Gauck (25 Prozent) zu wählen. Allesamt Figuren, von denen eine Art kollektive Ahnung besteht, sie würden irgendetwas anders machen. Zumindest die beiden Letzteren auch Personen mit charismatischen Qualitäten, so gesehen Boten eines zu jeder Zeit ungehobenen Protestpartei-Potenzials.

Genau das lässt sich auch aus der Bild-Umfrage herauslesen: Die stärkste Zustimmung zu einer „Sarrazin-Partei“ kommt von den Anhängern sonstiger Parteien (54 Prozent) und der Linken (29 Prozent). Die war in den vergangenen Jahren nicht nur erste erfolgreiche bundespolitische Neugründung seit den Grünen, sondern auch jene Partei, die am ehesten Protestwähler integrierte – vor allem im Westen. Umfragen haben unter anderem nach den Bundestagswahlen von 2005 und 2009 gezeigt, dass die Stimmabgabe zu einem beträchtlichen Teil aus dem Motiv heraus erfolgte, es „denen da oben“ (beziehungsweise der SPD) zu zeigen. Die Linkspartei hat bei den vergangenen Urnengängen oft viele Nichtwähler hinzugewonnen, aber auch wieder an dieses Lager verloren. Dass ein Teil der Anhängerschaft politisch nicht fest an die Partei gebunden ist, geschweige denn mit dem politischen Programm etwas anfangen kann, dürfte (wiederum vor allem im Westen) die Linke noch vor einige Probleme stellen. Vor allem dann, wenn zur „Normalisierung“ der eigenen Partei („Die sind ja auch nicht anders.“) die Attraktion einer neuen Organisation hinzuträte.

Aber ist das auch wahrscheinlich? Dass sich Leute in Umfragen irgendetwas vorstellen können, macht allein noch keine Parteigründung. Und dass die Zeitungen am rechten Rand der Union eine elektorale Leerstelle entdeckt haben, reicht für sich genommen auch nicht. Seit Angela Merkel mit einer Sozialdemokratisierung der CDU in Verbindung gebracht wird und die Partei sich nachhaltig von 40-Prozent-Ergebnissen entfernt; seit Ministerpräsidenten die Segel streichen und der Ruf nach konservativem Profil die Runde macht, wird immer mal wieder über die Möglichkeit einer sechsten Partei spekuliert. Was da zum neuen Trend gemacht wird, gibt es allerdings schon länger: die Sehnsucht eines autoritativen, nationalistisch, tendenziell neoliberal und rechtskonservativ gesinnten, heutzutage auch islamophoben Potenzials nach Führungsfiguren und politischer Heimat. Leute, die nicht NPD oder DVU wählen würden, die aber Alexander von Stahl oder Jürgen Möllemann zujubelten. Früher hatte über diesem Stammtisch der biergesättigte Dunst des „Ausländer nehmen uns die Arbeit weg“ gehangen. Heute irrlichtern dort „Kopftuchmädchen“ und Minarette als Gefahr für Volk, Sicherheit und Intelligenz. Die Parteien, die sich auf diese Vorurteile spezialisiert haben, sind bei Wahlen bisher nicht besonders erfolgreich (Pro-Bewegung), sieht man von den Einmal-Erfolgen ab, die wohl eher mit jeweils konkreten Umständen und Protestwählerei zu erklären sind (DVU in Sachsen-Anhalt, Schill in Hamburg). Auf jeden Fall wurden sie alle eines nicht: die berühmte sechste Partei.

Die Politikwissenschaften haben die deutsche Parteienlandschaft lange Zeit als außergewöhnlich stabil und „resistent gegenüber Neueintritten“ charakterisiert. Im Zusammenhang mit dem Aufstieg der Linken seit 2005 haben Oliver Nachtwey und Tim Spier „die sozialen und politischen Entstehungshintergründe“ der Partei unter die Lupe genommen und die Frage aufgeworfen, wann eigentlich eine „günstige Gelegenheit“ für eine neue Partei besteht. Ein Denkmodell, dass sich übertragen lässt. Vereinfacht gesagt müssen demnach vier Voraussetzungen erfüllt sein: Es bedarf erstens einer „gesellschaftlichen Nachfrage“ nach einem bestimmten Politikangebot, die „häufig ihren Ursprung in sozialen, kulturellen und politischen Konflikten und Spaltungen“ hat. Zweitens muss sich auf der politischen „Angebotsseite“ etwas tun: existierende Parteien können die Nachfrage nicht mehr befriedigen, es muss eine signifikante Lücke in der Repräsentation geben. Drittens muss sich ein neuer parteipolitischer Akteur, der diese Lücke schließen möchte, mit bestimmten institutionellen Rahmenbedingungen herumschlagen – angefangen von materiellen Ressourcen bis zu den Vorschriften des Wahl- und Parteienrechts. Und viertens geht es um den Akteur selbst. „Denn eine Gelegenheit“, so Nachtwey und Spier, „muss auch ergriffen, ja kann sogar partiell geschaffen werden. Parteien sind im Dialog auch immer Schöpfer einer für sie vorteilhaften Situation.“

Diesen Analyserahmen angesetzt müsste es für eine „Sarrazin-Partei“ eher schlecht aussehen. Selbst wenn man davon ausgeht, dass es eine „Nachfrage“ nach einer solchen Partei gibt, lässt sich doch nicht ohne Weiteres sagen, dass die Lücke in der Repräsentation schon dauerhaft aufgerissen ist. Radikalisierte Anhänger der Sarrazin-Thesen können rechtsextreme Parteien wählen, und die Union könnte mit dem Ausbau ihrer rechtskonservativen Flanke wieder Angebote schaffen und so reintegrieren. Hinzu kommt, dass sich die Linke seinerzeit auf eine bereits teil-etablierte Partei stützen konnte – übertragen auf die Sarrazin-Debatte lässt sich Vergleichbares nicht sagen, die noch am ehesten in Frage kommende Pro-Bewegung hat weder das organisatorische Potenzial, noch das, was man „Festigkeit“ nennen könnte: Eigenschaften einer Partei, die den Zustrom von Protestwählern, den berühmten „zehn Prozent Irren“, parteipolitisch völlig unerfahrenen und kaum an nachhaltigem Engagement interessierten Gefühls-Anhängern kompensieren können. Schließlich fehlen bisher jene, welche die „Gelegenheit“ ergreifen: Derzeit ist eine prominente und mit charismatischen Eigenschaften ausgestattete Person nicht in Sicht, die sich an die Spitze einer Bewegung stellen würde. Sarrazin, der „keine Partei im Sinn hat“, würde die nötigen Voraussetzungen ohnehin nicht mitbringen. Was unter dem Strich keine Beruhigung ist, denn in einem hat der Bundesbanker ja recht: Er kommt mit seinen Ideen auch ohne Partei weiter. Jedenfalls zuweilen.

zuerst erschienen auf lafontaines-linke.de

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Geschrieben von

Tom Strohschneider

vom "Blauen" zum "Roten" geworden

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