Justiz, hat der Schriftsteller Herbert Rosendorfer einmal gesagt, habe mit Gerechtigkeit so viel zu tun wie die Landeskirchenverwaltung mit dem lieben Gott. Der Mann muss es wissen: Er war bis in die neunziger Jahre Richter. Sein Bonmot konnte man in dem Urteil gegen die Kassiererin Barbara E. bestätigt sehen, deren fristlose Kündigung wegen des Verdachts der Unterschlagung von zwei Pfandbons im Wert von 1,30 Euro vom Berlin Landesarbeitsgericht im Februar 2009 für rechtens erachtet worden war.
Der Spruch der Kammer stieß seinerzeit auf großes öffentliches Interesse. Leserforen der Zeitungen quollen über vor empörter Kritik. Einer Frau nach über 30 Jahren kurzerhand zu kündigen, noch dazu wegen einer solchen Kleinigkeit. Und, als wäre d
äre das nicht genug, das alles auch noch in Zeiten, in denen Bankmanager, die Millionen verspekuliert hatten, trotzdem auf hohe Abfindungen hoffen konnten – der Fall „Emmely“ stellte das Gerechtigkeitsempfinden vieler auf den Kopf.Nicht nur unverhältnismäßig erschien der Ausgang dieses Prozesses, sondern auch als Beleg für eine kaum zu begründende Ungleichbehandlung: Wo für den Staatsbürger im Strafrecht bis zum Gegenbeweis die Unschuldsvermutung gilt, müssen Beschäftigte schon den gegen sie gerichteten Verdacht fürchten. Klassenjustiz? Nun, sogar Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse geriet über das „barbarische Urteil von asozialer Qualität“ in Rage. Dass er das später bedauerte, hatte seinen Grund in der Wortwahl, nicht in der Einschätzung des Falles: eine Ungerechtigkeit.Beschwerden laufen nochEin paar Monate später ist über „Emmely“ nur noch selten etwas zu lesen. Dabei ist die Angelegenheit juristisch noch nicht abgeschlossen. Der Anwalt von Barbara E. hat unter anderem den Weg zum Bundesverfassungsgericht eingeschlagen. Karlsruhe wird sich mit dem Fall allerdings erst befassen, wenn das Bundesarbeitsgericht eine Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision ablehnen sollte. Die Erfurter Richter entscheiden darüber am kommenden Dienstag.Auch politisch hat die Kündigung der Kaiser’s-Kassiererin einiges in Bewegung gesetzt. Die Linkspartei hat im Bundestag einen Antrag eingebracht, mit dem sie erreichen will, dass Verdachtskündigungen generell ausgeschlossen werden. Diese können dazu führen, dass ein Unschuldiger seinen Arbeitsplatz verliert, weil nach der Rechtsprechung unter bestimmten Voraussetzungen schon der Verdacht einer strafbaren Handlung oder Vertragsverletzung für eine fristlose Kündigung ausreichend ist. Mitte Juni ist der Antrag in die parlamentarischen Ausschüsse verwiesen worden.Petition ohne ÖffentlichkeitFür das Solidaritätskomitee, das sich über den Fall „Emmely“ hinaus gegen Verdachtskündigungen und für die Einführung einer Bagatellgrenze ausspricht, ist es mehr als vier Monate nach dem Urteil nicht einfacher geworden. Wo wegen der Wirtschaftskrise von möglichen Massenentlassungen die Rede ist, scheine das Thema „zur Zeit weniger aktuell“, heißt es. Hinzu mag kommen, dass es zwischen Betriebsrat, Gewerkschaft und Unterstützern zu Reibungen kam, die eine Beobachterin in die Frage fasste: „Was ist hier schief gelaufen?“ Und dann scheiterte noch der Versuch, über den inzwischen populären Weg einer Petition beim Bundestag die Debatte wiederzubeleben, an formalen Hürden: Die zuständige Parlamentsverwaltung ließ nur eine nicht-öffentliche Bearbeitung zu.Dies, so das Solidaritätskomitee, „war ganz klar nicht unser Ziel“, für eine politische Kampagne wie jene zum Grundeinkommen eignet sich das Verfahren nun kaum noch. Einstweilen werde man weiter Unterschriften sammeln (www.1euro30.de). Das Mittel Petition war nicht einmal erste Wahl. Zwei Monate habe der Unterstützerkreis diskutiert. Dagegen, so Gregor Zattler vom Komitee, habe unter anderem die Befürchtung gesprochen, dass ein Gesetz wohl nur „den gegenwärtigen Stand der Kräfteverhältnisse“ festschreiben werde.Über diesen durfte auch die kurze Phase der großen „Emmely“-Empörung nicht hinwegtäuschen. Das gilt für die Rechtssprechung, die einem deutlichen Trend folgt – und zwar in den allermeisten Fällen gegen die Beschäftigten (siehe Kasten). Aber auch für die Politik. Zwar hatten unter dem Eindruck der öffentlichen Debatte in einer Umfrage zwei Drittel das Urteil gegen die Kassiererin als ungerecht abgelehnt. Aber eine Mehrheit, die den Verdachts- und Bagatellkündigungen ein Ende machen könnte, ist nach Einschätzung von Zattler nicht in Sicht: „Die Chancen dafür stehen bei der gegenwärtigen und zukünftig zu erwartenden Zusammensetzung des Bundestags denkbar schlecht.“