Gefangen im eigenen Käfig

Alternativen Die Länderchefs retten die Hartz-Reform? In Wahrheit regiert die Kassenangst. So untergräbt die Politik die Demokratie

Das Lehrstück ist ein Trauerspiel, es handelt von schwachen Frauen, starken Männern, von Schuldigen und Rettern. Für die sieben Millionen Menschen, denen der Regelsatz das Leben bedeutet und nicht nur eine „verfassungsgemäß berechnete“ Formel ist, bleibt bei den Hartz-Gesprächen die Statistenrolle. Man spürte es am deutlichsten, als die Hauptdarsteller das Gegenteil behaupteten und sagten, nun müsse im Interesse der Betroffenen schnell eine Lösung her.

In wessen Interesse? Mit Kurt Beck und Wolfgang Böhmer haben zwei Politiker die Neuansetzung des Stücks verabredet, in deren Ländern im Frühjahr Wahlen anstehen. Ihr Vorstoß hat die Topografie der Hartz-Reform verändert. Wo vorher der vertikale Riss der Parteienkonkurrenz klaffte, tat sich plötzlich ein horizontaler Spalt auf: hier die vernünftigen Länder, dort die vom Parteienstreit getriebene Bundespolitik. Dass der Sozialdemokrat aus Rheinland-Pfalz sogleich die Verhandlungsführung der Länder beanspruchte und sich auch die Unionsseite zunächst im Ministerpräsidentenkreise besprach, musste den Eindruck unterstreichen, hier hätten sich starke Kräfte zur Rettung eines Vorhabens gefunden, das sonst im ideologischen Kleinklein der Berliner Politik zerrieben würde. Es verfehlte seine Wirkung nicht, selbst die Kanzlerin musste den Stabwechsel bei den Hartz-Gesprächen begrüßen.

Doch was wie ein Akt der Stärke aussieht, geht in Wahrheit auf Schwäche zurück. Die Hartz-Gespräche wurden nicht „gerettet“, weil in Magdeburg und Mainz die wichtigeren oder klügeren Leute sitzen. Auch nicht, weil dort die Belange der Erwerbslosen und ihrer Kinder mehr Beachtung finden. „Gerettet“ wurden die Verhandlungen, um der Landespolitik den Zugriff auf ein milliardenschweres Bundes-Angebot zu sichern. Die Offerte, mit der Übernahme der Kosten für die Rentner-Grundsicherung die Kommunen erheblich zu entlasten, hatte Arbeitsministerin Ursula von der Leyen gewarnt, komme nämlich „so nicht wieder“.

Die „Runde der Vernunft“, von der Angela Merkel gesprochen hat, ist ein Hilfspakt der mehr oder weniger Klammen. Die Länder agieren mehr und mehr als von Geldsorgen getriebenes Kollektiv, in dem parteipolitische Differenzen hinter der gemeinsamen Not zurücktreten. Reformen werden im Bundesrat fast nur noch mit Blick auf ihre finanziellen Auswirkungen auf die Länder und ihre Kommunen beurteilt. Kein Wunder, müssen die doch immer häufiger Aufgaben übernehmen, ohne dass im komplizierten System der föderalen Geldverteilung dafür unter dem Strich ein echter Ausgleich geschaffen wird. Der Bund, den selber jede Menge Schulden belasten, „betreibt eine Sanierung des eigenen Haushalts auf Kosten der übrigen staatlichen Ebenen“, hat unlängst der rheinland-pfälzische Finanzminister Carsten Kühl beklagt.

Budgetrechtliche Selbstentmachtung

Weniger Geld heißt weniger Gestaltungsmacht, das wirkt sich in der Landespolitik gravierender aus, auch weil hier anders als beim Bund nicht ohne weiteres an der Einnahmeschraube gedreht werden kann. Polizei, kommunale Investitionen, Bildungsausgaben – was kann man auf diesen, für den Alltag der Mehrheit zentralen Spielfeldern anrichten, wenn schon jetzt immer weniger Mittel frei sind und die Schuldenbremse dem Käfig des alternativlosen Sparens, in dem sich jede politische Debatte schon bewegt, noch ein weiteres Schloss vorhängt? Die Länder sind per Grundgesetz gezwungen, ihre strukturellen Defizite bis 2020 abzubauen und dürfen danach so gut wie keine Kredite mehr aufnehmen. Schon vorher gab es Regeln, die gravierend in die Politik eingriffen – die Verschärfung der Schuldenregeln sollte noch den Druck erhöhen. Wer wie die Minderheitsregierung in Nordrhein-Westfalen gegen den allgemeinen Meinungstrend darauf beharrt, dass es auch „gutes Schuldenmachen“ gibt, und deshalb wenigstens in bescheidenem Maße in die Zukunft investiert, ohne die Gegenwart zu beschneiden, muss in Zukunft noch häufiger mit Klagen rechnen.

Dass die budgetrechtliche Selbstentmachtung der Landesparlamente durchaus auch von diesen selbst betrieben wurde und wird, macht die Sache nicht besser. Im März stimmen die Bürger in Hessen über die Aufnahme einer Schuldenbremse in die Verfassung ab. Vor ein paar Tagen haben Gewerkschafter im Wiesbadener Landtag gegen die fraktionsübergreifend begrüßte Extra-Bremse protestiert. Die Verwaltung antwortete mit Hausverboten und Strafanzeigen. Demonstrationen im Plenum seien „mit der Würde des Parlaments unvereinbar“, hieß es – dabei hätten die Verdi-Vertreter sogar Dank verdient für ihre kleine Aktion zur Verteidigung des politischen Handlungsspielraums. Denn um den müsste es doch zuallererst gehen, aus ihm bezieht ein Parlament überhaupt erst „Würde“. Und dass die Bundespolitik diesen Rahmen nicht durch Umverteilung im Interesse der Allgemeinheit erweitert, sondern ihn im Gegenteil einschnürt, ist der Schatten, der auf den bevorstehenden Landtagswahlen liegt.

Es braucht keine Glaskugel, um vorherzusehen, dass sich am Ende wieder viele besorgt über die niedrige Wahlbeteiligung beugen werden: Demokratiemüdigkeit und Politikverdruss! Es werden dieselben Leute sein, die dafür gesorgt haben, dass die wählbaren Alternativen bloß noch darin bestehen, dass die einen viel sparen und die anderen noch mehr kürzen.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Tom Strohschneider

vom "Blauen" zum "Roten" geworden

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