Geflutet, nicht umzingelt: Atomprotest in Berlin

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Teilnehmerzahlen von Demonstrationen sind so etwas wie die Währung symbolischer Politik - sie sind heiß begehrt, unterliegen oft der Spekulation, werden kleingerechnet oder übertrieben. Am Freitagabend konnte man folgende Geschichte hören: Die Spitze der Grünen beziffere kurz vor der großen Anti-Atom-Demonstration öffentlich lieber nicht die eigenen Erwartungen, da keineswegs vorhersehbar sei, ob die vom Veranstalterbündnis erwarteten „mehreren Zehntausend“ denn wirklich auch am Samstag in Berlin auf die Straße gehen würden. Am Samstagnachmittag wurde dann unübersehbar, dass solcherlei Befürchtungen völlig überflüssig gewesen waren: Die Veranstalter sprachen von 100.000 Teilnehmern, die Erwartungen seien „bei weitem übertroffen“ worden. Die Polizei, auch das gehört zum traditionellen Umgang mit den Teilnehmerzahlen, wollte lediglich „deutlich mehr als 30.000“ gezählt haben - den Unterschied macht, was im Kopf des Nachrichtenkonsumenten hängen bleibt.

Wer in dabei Berlin war, ließ sich hinterher ohnehin durch keine Demo-Empirie von seinen Eindrücken abbringen: „Riesig. Alles voll. Gute Stimmung“, twitterte der Grüne Sven Giegold. Bloggerin Anne Roth steckte „in der Menge fest. Die ist ja doch...SEHR... groß...“ Der Thüringer Linken-Fraktionschef Bodo Ramelow sah „sooooo viele Menschen“ und der SPD-Politiker Björn Böhning staunte einfach nur: „Das ist fett.“

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Womit dann am Nachmittag auch ein Ziel der Aktion längst übertroffen war: „Das Regierungsviertel wurde nicht nur umzingelt, sondern geflutet“, wie es ein Sprecher der Organisatoren nannte. Der Widerstand gegen die Atompläne der Bundesregierung komme „aus allen Schichten der Gesellschaft“, hieß es in einer Erklärung. „Jüngere und Ältere, Schülerinnen und Schüler, Studentinnen und Studenten, Gewerkschafter, Beschäftigte in der Branche der Erneuerbaren Energien, Raver und Chöre, Umweltschützer und Angehörige der verschiedenen Parteien“ - der schwarz-gelben Koalition, so hofft man nun, müsse klar geworden sein, „dass sie sich mit ihrem Atomdeal gehörig die Finger verbrannt hat. In der Atompolitik ist noch lange nicht das letzte Wort gesprochen.“

Genau um ein solches bemühte sich unterdessen CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe: Der warf SPD und Grünen am Samstag in einer Erklärung vor, in Sachen Zukunft der Energieversorgung und zur Endlagerung von Atommüll „erneut völlig unglaubwürdig“ zu agieren. Wobei man den Eindruck hatte, dass es Gröhe vor allem um die Gelegenheit ging, Rot-Grün vorzuwerfen, auf der Demo „untergehakt mit der Linkspartei“ zu marschieren. Schon ein wenig verstrahlt sekundierte FDP-Generalsekretär Christian Lindner, es gehe den Oppositionsparteien wohl nur darum, „mit den Ängsten der Menschen zu spielen“.

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Die jedenfalls sind nicht nur real, sondern haben auch für eine der größten Demonstrationen gegen eine Bundesregierung gesorgt. „An 100.000 Menschen auf der Straße kann niemand mehr vorbeigehen“, zitierte der Taz-Liveticker einen Protestler aus Bayern. „Auch Angela Merkel nicht.“ Der Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann wagte in der Neuen Osnabrücker Zeitung ein erstes Resümee: Die Demo vom Samstag sei "das Fünkchen, aus dem sich eine neue politische Bewegung entwickeln kann". Auffällig sei, "dass verstärkt junge Frauen bei den Protesten mitmachen. Es würde mich auch nicht überraschen, wenn bei den 12- bis 16-Jährigen über das Thema Atomkraft das politische Interesse wieder ansteigt."

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Berlin war übrigens nicht der einzige Schauplatz einer Anti-Atom-Demo an diesem Samstag. Rund 1.500 Menschen haben auch im saarländischen Perl protestiert - gegen das französische Atomkraftwerk Cattenom im Dreiländereck SaarLorLux und die schwarz-gelbe Laufzeitverlängerung.

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(Foto: Johannes Eisele/AFP/Getty Images)

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Geschrieben von

Tom Strohschneider

vom "Blauen" zum "Roten" geworden

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