Man kann einiges aus den Reflexen lernen, die durch Meldungen wie diese erzeugt werden: „Gesine Schwan kann sich eine Kandidatur für den SPD-Vorsitz vorstellen“. Während die einen fragten, ob es der Partei so schlecht gehe, dass Bewerbungen dermaßen zögerlich einlaufen, verwiesen andere darauf, dass einer Professorin die Parteikarriere für das Amt fehle. Als dann noch Kevin Kühnerts Name als möglicher Partner von Schwan in einer Doppelspitze genannt wurde, beschleunigte sich das Abwinken hier – und dort wurde die Sehnsucht größer nach genau so einem Duo.
„Ich komme sowohl von außen als auch von innen“, hat Schwan dem Sender NTV gesagt. Da spricht jemand, die seit Jahrzehnten in der SPD und doch so unabhängig von der Partei geblieben ist, dass sie ihr ohne Rücksichtnahme auf die eigene Karriere immer wieder wirkungsvoll auf den Wecker gehen konnte. Einem Teil der Sozialdemokratie jedenfalls. Und diese Teile wechselten, mit den klassischen Zuordnungen der SPD-Geografie wird man einer Gesine Schwan nicht habhaft.
Sie verteidigte den Nato-Doppelbeschluss, der viele SPD-Linke empörte. Sie war an der Bildung des Seeheimer Kreises beteiligt, der als Bollwerk gegen damalige marxistische Einflüsse dienen sollte. Weil sie die Haltung der SPD-Spitze zu den realsozialistischen Staaten offen als zu unkritisch rügte, verlor sie in den 1980er Jahren ihren Sitz in der Grundwertekommission der SPD, die sie heute wieder anführt. Gesine Schwan war in jener Zeit mit dem Hochschullehrer Alexander Schwan verheiratet, dessen politische Entwicklung nach rechts zeigte. Ging Gesine Schwan seither nach links?
Es ist wohl eher so: In vielem hat die 1943 in Berlin geborene Politikwissenschaftlerin an Positionen festgehalten, während in der SPD die erste Reihe meinte, woanders hinrücken zu müssen. Auf die Debatte angesprochen, ob die SPD auf das „dänische Modell“ einer restriktiven Migrationspolitik setzen solle, antwortete Schwan, dies entspreche „nicht der Tradition der SPD“ und sei zudem „auch in der Sache nicht richtig“. Der Rückgriff auf die Vergangenheit ist hier nicht bloßer Sprechreflex, sondern bildet ein Fundament ihres Denkens. „Mit einem nationalen Sozialismus werden wir keine Solidarität schaffen können.“ Als alle von der „Flüchtlingskrise“ sprachen, auch die meisten in der SPD, machte Schwan Vorschläge zur Überwindung der „Solidaritätskrise“, um die es sich ja tatsächlich handelte: Ihre Strategie war eine „von unten“, europäische Städte und Gemeinden, die Geflüchtete aufnehmen wollen, sollten dazu politisch und materiell befähigt werden.
„Ich achte darauf, dass das, was ich öffentlich sage, substanziell mit den Grundwerten der Partei übereinstimmt“, so hat Schwan einmal ihr Politikverständnis beschrieben. Es war zugleich eine Botschaft an jene in der SPD, die damals lauthals in eine nationalistische Belehrungsrhetorik gegenüber Griechenland einstimmten und gern den Vollstrecker der Gläubigerdiktate gaben. Schwan erinnerte ihre Genossen daran, dass diese doch eben noch auch gegen Austeritätspolitik waren: „Wenn die Sozialdemokratie in ihrer faktischen Politik rabiat gegen Gerechtigkeit und Solidarität verstößt, wie das im Falle Griechenlands aktuell der Fall ist, dann halte ich nicht still.“ Sie wurde dafür als „Griechenland-Versteherin“ und „Altersrevoluzzerin“ tituliert, aber wer einmal mit ihr zu tun hatte, kann sich das feine Lächeln vorstellen, mit dem Schwan auf solche Anwürfe zu reagieren pflegt. Das Wort politischer Stil ist bei ihr kein falsches Etikett: Gesine Schwan hat sich mit Oskar Lafontaine über Politik noch öffentlich gestritten, als der Saarländer in der SPD schon als Persona non grata galt. Sie hat zwei Mal als Kandidatin für das Bundespräsidentinnenamt zur Verfügung gestanden, nicht als Spielmarke von SPD und Grünen, sondern weil sie die Bühne nutzen wollte für ihre eigenen Standpunkte. Und Gesine Schwan hat auf deutsch-polnische Verständigung auch dann noch gepocht, als dies mit der rechtsgerichteten Regierung in Warschau immer schwieriger wurde. Aus einem Elternhaus stammend, das gegen den NS-Terror Widerstand leistete, lernte sie Polnisch und hatte diverse Ämter in der Zusammenarbeit mit Polen inne. Ein durchgehender Faden in ihrer Biografie. Schwan hat über den polnischen Philosophen Leszek Kołakowski und die Philosophie der Freiheit bei Karl Marx promoviert, den sie besser kennt als viele, die sich für Marxisten halten.
Schwan sagt jetzt, da sich das mediale Interesse auf die Vorsitzendenfrage konzentriert, was man sagen muss: dass die Basis mehr Einfluss bekommen sollte, dass die SPD mehr verkörpern muss als eine Politfabrik, die Spiegelstriche abarbeitet, dass Sozialdemokratie auch heißt, Gefühle anzusprechen. Mehr als andere betont Schwan den planetaren Charakter der gegenwärtigen Krise und also auch die Notwendigkeit, Gerechtigkeit international zu denken. Die Sache mit der Kühnert-Doppelspitze hat sie so gar nicht sagen wollen, es ging ihr vielmehr darum, sich gegen dessen Dämonisierung auszusprechen.
Wird diese Frau SPD-Chefin? Es könnte hilfreich sein, die eingangs zitierte Nachricht in eine Frage umzudrehen: Kann sich die Sozialdemokratie eine Kandidatur von Gesine Schwan für den Vorsitz vorstellen? Hier liegt ja die Pointe dieser Personalie – dass da jemand eine Bereitschaft signalisiert, die über den innerparteilichen Machtmechaniken steht und die ein sozialdemokratisches Credo verkörpert, das sich Visionen noch erlaubt, von Grundwerten ausgeht und aus Realismus Grün-Rot-Rot befürwortet. Programmatische Lust, intellektuellen Charme, theoretische Offenherzigkeit: Hält die SPD des Jahres 2019 so etwas noch aus?
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