Gütlich, Mumpitz, Inakzeptabel: Sarrazin bleibt in der SPD

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Thilo Sarrazin bleibt SPD-Mitglied. Die Entscheidung, wohl mehr ein Deal der Parteispitze als das souveräne Urteil der Schiedskommission des Berliner Kreisverbandes Charlottenburg-Wilmersdorf, stört nun hier und da die Feiertagsruhe.

Das gilt zum ersten für die Sozialdemokraten selbst: Was die Ortsgruppe eine „gütliche“ Einigung nennt, ist den Jusos ein „fatales Signal“, Präsidiumsmitglied Ralf Stegner findet den Entscheid „inakzeptabel“ und der saarländische Fraktionsvize wollte spontan mit dem „Vollarsch“ Sarrazin nichts zu tun haben. Andrea Nahles, die für die Parteispitze verhandelte, welche selbst ein Ausschlussverfahren angestrengt hatte, fand hingegen, man habe die Kuh „in gemeinsamer Verantwortung für die SPD“ vom Eis geholt. Denn darum ging es den Oberen zuallererst: Eine Causa zu beenden, die der angeschlagenen Partei bei jedem denkbaren Ausgang zum Nachteil geworden wäre. Er sei „jedenfalls froh“, hat Frank-Walter Steinmeier es formuliert, „dass der SPD ein jahrelanges Verfahren durch alle Instanzen erspart bleibt“.

Dieser taktische Charakter des Kompromisses, der in einer Erklärung Sarrazins gipfelt, die vor allem Sigmar Gabriel und Andrea Nahles alt aussehen lässt, weil der Ex-Bundesbanker darin keinen Milimeter von seinen Äußerungen abrückt, sondern lediglich bedauert, dass die zahlreichen Kritiker und die Objekte seiner „Theorien“ diese leider, leider falsch verstanden haben könnten, spielt auch, zweitens, in den Zeitungskommentaren eine wichtige Rolle. „Die SPD musste sich das Problem Sarrazin vom Hals schaffen. Sarrazin selbst wäre sie nicht so schnell losgeworden“, schreibt der Tagesspiegel - und erinnert daran, dass in Berlin demnächst Wahlen anstehen. Die Tageszeitung fragt sich hingegen, ob die SPD sich in ihrem wahltaktischen Opportunismus „mal nicht irrt“. Völlig anders dagegen die Frankfurter Allgemeine, die zwar auch Taktik erkennt, damit allerdings eine„Verschlagenheit“ der SPD meint, die den ganzen Fall zum Knüppel zwischen die Beine der CDU werden ließ: „Dass Sarrazin von seinem eigenen SPD-Vorsitzenden Gabriel gerügt und der Parteimitgliedschaft für unwürdig erklärt worden war, mutet nach dem Urteilsspruch im Berliner Parteiausschlussverfahren nur noch wie eine Falle für die CDU an, in die Frau Merkel und Wulff getappt sind“.

Eine dritte Frage, die nun ebenfalls wieder diskutiert wird, betrifft die Frage, ob nicht trotz alledem auch ein SPD-Mitglied rassistischen Unfug äußern darf – es ist jener Teildiskurs über den Universalismus der Meinungsfreiheit, vor dem verständlicher Weise oft zurückgeschreckt wird, oder dem man sich, Sarrazins Äußerungen kurzerhand zum Straftatbestand deklarierend, entzieht. Die Süddeutsche meint hingegen, „die Gefahr, die von Sarrazin ausgeht“ sei für die Sozialdemokraten „viel geringer als die Bedrohung der Partei durch ihre führenden Funktionäre“ – zu oft hätten diese „in den vergangenen Jahren nach Sanktionen gerufen, zu schnell die eigene Interpretation der Satzung über verfassungsrechtliche Werte gestellt: meistens über die Rede- und Meinungsfreiheit“.

„Dem Volkslautsprecher Sarrazin konnte die SPD nicht den Saft abdrehen, ohne in seiner riesigen Fangemeinde den Eindruck zu erwecken, der Partei seien Volkes Stimme und Stimmungen herzlich egal“, schreibt die Frankfurter Rundschau. Und wie groß diese „Gemeinde“ ist, hat die Welt sich gleich einmal mit einer Umfrage ausrechnen lassen: Die Mehrheit der Befragten (60 Prozent) und vor allem der Anhänger der SPD (62 Prozent) sprechen sich für einen Verbleib Sarrazins in der Sozialdemokratie aus. (Die Umfrage wurde vor dem Berliner Schieds-Kompromiss gemacht.) Man erinnert sich an Sigmar Gabriels Hinweis vom vergangenen September, als der SPD-Vorsitzende mit Blick auf die empörten Reaktionen der Basis auf das Ausschlussverfahren gegen Sarrazin meinte, „90 Prozent – wenn nicht mehr – sagen, warum schmeißt ihr den denn raus, der hat doch recht“; Nahles musste damals einen erklärenden Brief an die Genossen schreiben, weil viele über den Vorgang empört waren – nicht etwa über Sarrazin und seine Thesen.

Drei Antworten darauf liegen nahe: Die erste würde es für ein Glück halten, dass solche Leute lieber die SPD wählen als eine rechte Partei. Die zweite würde auf die Entwicklung von rechtspopulistischen, nicht zuletzt islamfeindlichen Einstellungen in jenen Sozialmilieus verweisen, die als „Mitte“ bezeichnet werden und die von der SPD ausdrücklich umworben sind – was zu der Ansicht führen könnte, hier werde durch Milde gegenüber Sarrazin absichtlich im Trüben gefischt. Die erste und die zweite Antwort stehen in einem engen Verhältnis.

Die dritte ist vielleicht die ehrlichste: Die in diversen Studien registrierte Zunahme der Abwertung von als schwach angesehenen Gruppen, rassistischen und antisemitischen Denkmustern, die teils aggressive Verteidigung von Etabliertenvorrechten, wachsende Islamfeindlichkeit und so weiter ist ein parteiübergreifendes Phänomen. Dass seinerzeit in einer (methodisch wie immer nicht ganz haltbaren) Umfrage 54 Prozent der Anhänger sonstiger Parteien und 29 Prozent der Wähler der Linken sich vorstellen mochten, „eine neue Partei zu wählen, wenn Thilo Sarrazin Vorsitzender dieser Partei wäre“ ist dafür ebenso Symptom wie die aktuellste Auswertung der Langzeitstudie zur „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“, die eine Zunahme der „gesellschaftlichen Vergiftungen“ vor allem im oberen Mittelfeld, also eine „rohe Bürgerlichkeit“ feststellte, die „sich durch den Rückzug vom sozialen Zusammenhalt einer Gesellschaft befördernden Solidargemeinschaft“ auszeichnet. Und wenn in Berliner Bezirken, deren Bewohner sich gern als ökologisch aufgeklärt und mit honorigen Werten ausgestattet ansehen, die Zahl der Einschulungen in privaten, christlichen Lehranstalten steigt, dann hat auch das mit der Angst vor den „Kopftuchmädchen“ zu tun. Man wird diese weder in der SPD noch anderswo mit Ausschlussverfahren besiegen können.

FES-Studie: Die Abwertung der Anderen - hier
zu Tim Spiers: Modernisierungsverlierer? - hier

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Geschrieben von

Tom Strohschneider

vom "Blauen" zum "Roten" geworden

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