Jene Zahlen, die das Meinungsforschungsinstitut Forsa am vergangenen Samstag veröffentlichte, wird man noch eine Weile in Erinnerung behalten: die Grünen mit 27 Prozent erstmals vor der CDU, die SPD mit historisch schwachen 12 Prozent nur noch knapp auf Rang drei. Der mögliche Einfluss dieser Zahlen auf Andrea Nahles, die tags darauf ihren Rückzug als Partei- und Fraktionsvorsitzende sowie Bundestagsabgeordnete erklärt hat, ist das eine. Das andere ist von der neuesten Krise der SPD etwas in den Hintergrund gedrängt worden: Was bedeutet all das für die Option einer Mitte-links-Mehrheit?
Die Union hat sich beeilt, die Stabilität der amtierenden Regierung zu betonen. Aus Überzeugung? Eher aus Not. Annegret Kramp-Karrenbauer hat die internen Gegner im Nacken, und die politische Großwetterlage hängt schwer über ihr. Auf den möglichen Wegen zu Neuwahlen liegen auch für die seit Dezember 2018 amtierende CDU-Vorsitzende viele Stolperfallen.
Die Zahlen für die SPD sind schlecht, die der Union aber auch nicht gut. Der Versuch von Kramp-Karrenbauer, mit konservativ-autoritärer Rhetorik den rechten Rand ihres Lagers zu integrieren, hat auf der anderen Seite die Abwanderung der eher liberalen Wählerschaften und Sozialmilieus in Richtung Grüne noch verstärkt. Hinzu kommt: In der bestehenden Koalition wird sich die SPD nun – sofern sie nicht doch noch die Reißleine zieht – bis zur„Halbzeitbilanz“ umso mehr um Erfolge bemühen, die nach außen die Erzählung von der „Erneuerung“ unterstreichen. Das wiederum ist Benzin ins Feuer derer auf Unionsseite, die immer lauter herumtönen, es werde zu viel „Sozialklimbim“ betrieben. Und welche Aussichten hätte denn die Union nach Neuwahlen? Noch eine Jamaika-Pleite? Selbstzerstörung durch ein Bündnis mit der AfD? Wohl kaum. Zudem: Der Ton, in dem ökologische Forderungen in der Union derzeit diffamiert werden, macht es ziemlich schwer, sich ein baldiges Regierungsbündnis mit den Grünen vorzustellen.
Womit wir noch einmal bei der Forsa-Umfrage vom vorigen Samstag wären. Denn die Zahlen verwiesen auch auf eine andere mögliche Zukunft: eine rechnerische Mehrheit links von Union, FDP und AfD, unter grüner Führung, wie sie sich gerade in Bremen anbahnt. Ein solches Grün-Rot-Rot hätte mit dem alten Rot-Rot-Grün nicht viel zu tun. In Zeiten, in denen selbst Beraterinnen und Berater der Bundesregierung von einer notwendigen „Großen Transformation“ sprechen, müssten die Beteiligten ihre Rollen aber ohnehin neu finden.
National handeln reicht nicht
Warum? Die historischen Erfolge sozialer Integration und von Reformpolitik basierten auf nationalstaatlich organisierter Umverteilung. Heute sind die ökologischen Folgen einer auf Wachstum gepolten Produktionsweise, die für diese nationalstaatlich organisierte Umverteilung die Grundlage bildet, nicht mehr zu ignorieren. Die Spielräume für gesellschaftliche Investitionen stehen zudem schwer unter Druck, solange die Politik national begrenzt bleibt, das globale Kapital aber nicht.
Eine „Große Transformation“ müsste sich also einen radikalen Umbau der Industriegesellschaft vornehmen, dabei globale Ungleichheit berücksichtigen und eine weltgesellschaftliche Lösung der Probleme anstreben, statt mit Standortwimpeln zu wedeln. Damit nicht genug, bräuchte es ein Bündnis der Vielen, das über Gräben hinweg Kompromisse auf der Basis wiedererweckter Solidarität möglich macht.
Für Gewerkschaften, soziale Bewegungen, Parteipolitik könnten die Herausforderungen also kaum größer sein. Das heißt auch, endlich damit aufzuhören, von allen anderen zu verlangen, dass sie genauso werden, wie man selbst schon ist. Ein neues Grün-Rot-Rot hieße auch, mit dialektischer Gelassenheit und strategischer Schlauheit gerade die Unterschiede produktiv zu machen.
Vielleicht so: Die Grünen repräsentieren den Block einer ökologisch orientierten, kapitalismuskompatiblen Modernisierung. Damit vertreten sie nicht bloß die Interessen jener, die nach anderen Konsumweisen verlangen und sich dies leisten können, wie ein unerschütterliches Vorurteil besagt. Sie repräsentieren auch wichtige Teile von „neuer“ Arbeit und „grünem“ Kapital. Hier läge ihr Momentum innerhalb von Grün-Rot-Rot: die innere Entwicklung des Kapitalismus für gesellschaftliche Veränderung zu nutzen.
Aber: Der Antagonismus von Arbeit und Kapital ist keine literarische Erfindung, er materialisiert sich mit großer Wirkungskraft in einer Eigentums- und Aneignungsordnung, die den Reproduktionsinteressen der Arbeit, der Gesellschaft und der Natur entgegensteht. Wer immer soziale, ökologische, freiheitliche Motive zu verfolgen beabsichtigt, muss also auch „Kapitalismus“ sagen. Der wird zwar nicht in Regierungskoalitionen auf Bundesebene verändert, aber die Linkspartei könnte hier eine ökosozialistische Rolle haben. Eine Reformregierung wird man heute nur dann als progressiv bezeichnen wollen, wenn sie auch die Möglichkeiten zu künftiger Veränderung verbessert. In diesem Sinne könnte die Linkspartei das utopische, kapitalismuskritische Momentum von Grün-Rot-Rot sein.
Und was ist mit der SPD? In vielen Debatten der vergangenen Monate spielten die „Verlierer“ der „Großen Transformation“ eine Hauptrolle. Ein fortschrittliches Bündnis sollte nicht von „Verlierern“ reden. Das wird aber erst möglich, wenn es für die Beschäftigten der „alten Industrien“ eine Zukunft gibt. Man mag deren Interessen „sozialkonservativ“ finden, vor allem, wenn sich die Sorge um die eigene Zukunft in einer Kultur der Abwehr, der Exklusion und des Sündenbockdenkens zeigt. Daran, dass es diese Interessen gibt und dass progressive Politik darauf eine Antwort haben muss, ändert das aber nichts. Hier könnte das Momentum der Sozialdemokratie in einem neuen Grün-Rot-Rot liegen: bei der Solidarität. Nun ist das nicht der Begriff, der einem bei der SPD als Erstes einfällt. Aber es hat auch niemand gesagt, dass dies hier eine Kaffeefahrt wird.
Die Rolle der SPD wäre, immer und unabdingbar auf ein soziales Zusammengehörigkeitsgefühl zu pochen, das reziprokes Vertrauen ermöglicht: „Wer sich solidarisch verhält, nimmt im Vertrauen darauf, dass sich der andere in ähnlichen Situationen ebenso verhalten wird, im langfristigen Eigeninteresse Nachteile in Kauf“, hat der Philosoph Jürgen Habermas geschrieben. Und im Interesse des Ganzen. Dafür muss Solidarität als praktischer Zusammenhang wieder ausgebaut werden: durch Gesetze, in Institutionen, als staatliches Handeln.
Es ist das beliebteste Bündnis
Davon würden jene traditionellen Wähler-und-Wählerinnen-Milieus der SPD profitieren, von denen es stets heißt, man wolle sie „zurückgewinnen“. Das geht nicht, indem man sie in dem Glauben lässt, alles könnte so bleiben oder wieder so werden wie in jener Vergangenheit, die umso heller strahlt, je länger sie zurückliegt.
Immer wieder ist in der SPD programmatische Erneuerung mit dem Argument eingefordert worden, die ökologische Lage, der technologische Fortschritt, die immer wieder zutage tretenden Grenzen sozialer Integration unter globalen kapitalistischen Bedingungen erforderten dies. Waren die Debatten früher klüger? Jedenfalls könnte die SPD noch einiges von sich selbst lernen.
Zum Schluss noch einmal eine Umfrage: Im Mai meldeten die Demoskopen des Meinungsforschungsinstituts Emnid, Grün-Rot-Rot sei die aktuell beliebteste Koalition. Immerhin 25 Prozent sehen das so, alle anderen Farbvarianten schnitten schlechter ab. Bei den Anhängern der Grünen plädierten mehr als 50 Prozent für Grün-Rot-Rot; bei den Sozialdemokraten immerhin 37 Prozent.
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