Es war die Zeit der Schwüre. „Es kann nicht weitergehen wie bisher“, schrieb Norbert Blüm am Weihnachtstag 2008. „Es wird auch nie mehr so, wie es noch vor dem Fall von Lehman Brothers war.“
Die Prognose des früheren CDU-Arbeitsministers war die Parole des vergangenen Jahreswechsels: Zur Krise breitete sich ein neuer Sound aus, eine systemskeptische Haltung, die ihren Ausdruck in Endzeitfeuilletons und (Anti-)Kapitalismus-Debatten fand. Der DGB-Vorsitzende wurde zu jener Zeit im Radio allen Ernstes gefragt, ob sich die marktradikale Ordnung nun „selbst auffressen“ würde. Ein paar Wochen nach Blüms „Nie mehr!“ warf sich der Milliardär Adolf Merckle vor einen Zug, der Unternehmer hatte sich verspekuliert. Symbolisch
Symbolisch war das kaum noch zu übertreffen. Die Krise als Chance? Ein Jahr später fällt die Bilanz ernüchternd aus – oder beruhigend, je nachdem, von welchem Standpunkt man die Sache betrachtet. Die Reparaturpolitik der Großen und später der schwarz-gelben Koalition erwies sich als erfolgreich und gescheitert zugleich. Gescheitert, weil zwar Realökonomie und Finanzsektor einigermaßen stabilisiert werden konnten, aber zugleich keines der offenkundigen sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Probleme auch nur angepackt wurde. Erfolgreich, weil bei allem scheinbar alte Paradigmen umwerfenden Aktionismus die Kontinuität gewahrt blieb: Der Neoliberalismus, dessen „grandiose Niederlage“ eben noch besungen wurde, ist quicklebendig.Öffentliche Hand ausgetrocknetDie „Renaissance des Staates“ wurde zum Jungbrunnen der Entstaatlichung. Die Abermilliarden, die in Rettungsfonds und Konjunkturhilfen gepumpt wurden, hieß man keynesianische Wende. Doch sie ließen einen abgemagerten Staat zurück. Die „unvorhergesehenen“ Belastungen wurden sogar zum letzten, mobilisierenden Argument für eine „Schuldenbremse“, welche die „öffentliche Hand“ schon bald als Akteur austrocknen könnte.Es war ebenfalls vor einem Jahr, da zeichnete der Politökonom Dieter Klein, frei von zusammenbruchstheoretischer Euphorie, mehrere Entwicklungspfade auf. Der erste führt weiter gerade aus, „mit geringen Veränderungen“. Die zweite Richtung sah er in einem „wieder stärker regulierten neoliberalen und angegrünten Kapitalismus“, womöglich sogar nach skandinavischem Vorbild „sozialdemokratisiert“. Drittens wollte der Berliner Professor eine „Flucht der Machteliten in einen hochgradig entzivilisierten Kapitalismus nicht ausschließen“. Und schließlich, Kleins Sympathie für diese Variante war unverkennbar, konnte die Krise als Gelegenheit für den Einstieg in den Ausstieg angesehen werden – Klein sprach von „realitätsbezogenen Visionen“.Mut und Mehrheiten fehltenMan muss dabei nicht mal an die ganz große Wende denken. Und doch sind es gerade die kleinen transformatorischen Schritte, denen es in diesem Jahr weniger an der Gelegenheit fehlte, als an gesellschaftlichen Mehrheiten und wohl auch an Mut. Die Menschheit, so lesen es heute wieder Studenten in Marx-Lektüre-Kursen, stelle sich stets nur Aufgaben, die sie lösen kann und bei denen die materiellen Bedingungen zu ihrer Lösung schon vorhanden sind. Das sind sie – und an der Dringlichkeit radikaler Veränderung kann angesichts von Klimakrise und Ressourcenschwund auch kein Zweifel bestehen.Vor diesem Hintergrund war 2009 ein verlorenes Jahr: Statt in der Autobranche einen zielgerichteten Strukturwandel einzuleiten, der sich aufmacht, ein industrielles Modell und das damit verbundene Mobilitätskonzept zu überwinden, wurde eine milliardenschwere Abwrackprämie ausgereicht. Statt bei Opel nach dem Einstieg des Staates neue Varianten öffentlicher und betrieblicher Lenkung durchzusetzen, wurde die Konzerntochter bloß über den Abgrund gehievt – dort geht es um „weiter wie bisher“. Die Rettung von Banken wurden nicht ansatzweise für eine Stärkung des öffentlichen Finanzsektors genutzt – es sollten bloß Zusammenbrüche verhindert werden, die öffentliche Hand will die heißen Kartoffeln schnellstmöglich wieder loswerden. Kurzarbeit konnte Entlassungen vorübergehend verhindern, aber eine ernsthafte Debatte über Alternativen zum derzeitigen Erwerbsregime, das Millionen ausschließt, wollten nicht einmal die Gewerkschaften anstoßen. Grund gibt es: Für den Erwerbsmarkt gibt Nürnberg bis 2012 eine „düstere Einschätzung“. Keines der Konjunkturprogramme hatte auch nur den Anspruch, in irgendeinem Sektor für einen Kurswechsel zu sorgen. Stattdessen bestimmte das alte Wachstumsdenken die Aufschwung-Werkelei. Am Ende des Krisenjahres 2009 starrt die Regierung in der Hoffnung auf die BIP-Prognosen, ihre gefährliche Steuerwette auf die Zukunft möge aufgehen.Neoliberalismus weist den WegDoch der Ausblick ist trübe. Einerseits geht kaum noch einer „Experten“ davon aus, dass sich eine schnelle konjunkturelle Erholung einstellt. Der erwartete Miniaufschwung im kommenden Jahr dürfte nicht einmal die Hälfte des Krisenrückgangs von 2009 kompensieren. Die leichte Erholung, von der die Rede ist, hat keine nachhaltige Basis – bleiben die Wirkungen der Konjunkturprogramme und der Politik des billigen Geldes aus, fehlen wichtige Krücken. Eine Politik der Marktregulierung, die diesen Namen auch verdient, ist nicht absehbar. Die mit großer Verve debattierte Begrenzung von Managergehältern war die Scheinlösung, die den Gedanken an weiter gehende Schritte einschläfern sollte.Blüms Diktum vom Weihnachtstag 2008 erwies sich als überzogene Hoffnung. Recht behielten Leute wie der FDP-Mann Martin Zeul: „Der Neoliberalismus weist uns den Weg aus der Krise“, hatte der im vorigen Januar erklärt und war dafür belächelt worden wie ein paar Monate zuvor nur jene Linke, die von Konjunkturprogrammen oder gar Verstaatlichungen redeten.