"Die Einsicht in manche Notwendigkeit der Politik“, schrieb Willy Brandt einmal über das erzwungene Ende seiner Kanzlerschaft, „wurde durch den Schock meines Rücktritts gefördert.“ Im Fall des Christian Wulff galt bisher die Umkehrung: Bundespräsident und Kanzlerin können eine Affäre aussitzen, weil die Opposition vor notwendigen Einsichten zurückschreckt und den Schock einer Demission fürchtet.
Warum eigentlich? Was bremst jene, die sonst das große Scheitern von Schwarz-Gelb beklagen, die Koalition als Verhinderungsbündnis bei der Behebung wichtiger Probleme kritisieren, die das Ziel ausgegeben haben, die Kanzlerin und ihren Zwei-Prozent-Fortsatz abzulösen?
Noch vor ein paar Tagen mahnte Linken-Chef Klaus Ernst zur
aus Ernst zur „Besonnenheit“ in der Wulff-Debatte. Der sonst kaum um eine Attacke verlegene SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel befürchtete bei dessen möglicher Demission gar eine „Staatskrise“. Und nicht nur der Fraktionsvorsitzende der Grünen, Jürgen Trittin, ließ sich mit dem freundlichen Angebot an Angela Merkel zitieren, im Falle des Falles „einen parteiübergreifend getragenen Kandidaten zu suchen“.Die dabei immer wieder bemühte „Würde des Amtes“ ist ein Potemkinsches Argument, hinter dem man wohlfeil in Deckung gehen kann. Nach Monaten der Krisendebatte, in der sich die Politik bis an die Grenze der Selbstaufgabe treiben ließ und zusehen musste, dass eine Lösung mit den alten Rezepten nicht absehbar ist, kommt so eine Wulff-Affäre ganz recht. Beharrlich und mit demonstrativer Moral werden die Unschicklichkeiten einer ersatz-monarchistischen Nebenfigur behandelt. Solange die Kameras auf Bellevue gerichtet sind, wird niemand mit Fragen darüber bedrängt, wie es mit den Problemen jenseits des Schlosszaunes weitergehen soll. Das höchste der Gefühle: Vielleicht kommt eine Transaktionssteuer.Probleme der Parteien, nicht der politikáPolitisch im Sinne der politiká ist das nicht. In der dominierenden politischen Diskussion werden weniger das Gemeinwesen betreffende Fragen behandelt als die Probleme der Parteien selbst. Hält die Koalition? Verschwindet die FDP? Wird Steinbrück Kandidat? Mit wem machen es die Grünen? Wer führt die Linke? Die Opposition zögert, weil es im Falle von Neuwahlen vielleicht nicht für Rot-Grün reicht. Also behält sich jeder die Möglichkeit der Kooperation mit fast jedem vor. Außer mit der Linken natürlich, wobei dies beiderseits an Gründen scheitert, die gegenüber den politischen Herausforderungen ebenfalls nicht sehr überzeugend wirken.Die Zukunft der sozialen Sicherung, Bildungschancen, das grundrechtswidrige Erbe der Terrorismusbekämpfung, die Aufklärung der Nazi-Morde, den Gerechtigkeitsaspekt bei Klimaschutz und Energiewende, die Konsequenzen aus der Finanzkrise: Was verdeckt selbst der geschrumpfte Präsident nicht alles! Die Liste ist lang, die politischen Antworten sind rar – vor allem sind sie umstritten. Die Unterschiede verlaufen dabei allerdings nicht mehr vorrangig zwischen den Parteien, sondern in ihnen. Die Konkurrenz um wichtige Fragen droht aus dem Raum des Wahl-Wettbewerbs immer mehr in den der innerparteilichen Auseinandersetzung abgedrängt zu werden. Als die sozialdemokratische Generalsekretärin Andrea Nahles einen vorgezogenen Urnengang im Zusammenhang mit der Wulff-Debatte erwog, zog mehr die Frage an, wer wann warum zurückruderte. Nachrangig schienen die Voraussetzungen und Begrenzungen eines Wechsels, bei dem nicht nur die Regierung ausgetauscht, sondern auch die Politik wirklich verändert würde. Gestützt von Medien, die solche Konflikte für die wichtigeren Nachrichten halten, droht so eine Privatisierung der politischen Prozesse.Wer in der SPD war noch einmal gegen die Vorratsdatenspeicherung? Wie war noch einmal die Haltung der Grünen zur Rente mit 67? Und wer in der Linken würde eigentlich die Haltelinien ziehen, an denen die Bereitschaft der Partei zur Kooperation endet? Anders gefragt: Wen soll man nochmal warum genau wählen?Ende der AufklärungsphaseKeine Wechselstimmung, sagen die Demoskopen. Weil Politik nicht mehr an diese Möglichkeit glaubt. Im Lichte der sozialisierten Krisenlasten und der nun für ganz Europa autoritär verordneten Austeritätspolitik, angesichts der sozialen Realität hinter den „guten Konjunkturnachrichten“ und einer globalen politischen Dynamik, in der die Möglichkeit des Fortschritt und der Reaktion gleichermaßen eingeschrieben sind, erscheint die bundespolitische Debatte hierzulande seltsam verstockt. Das Potenzial von Veränderung war lange nicht so groß, die Neigung, sich den Schwierigkeiten der praktischen Gestaltung auszusetzen, lange nicht so klein.Am „Ende der Aufklärungsphase“ sieht, stellvertretend für ein gesellschaftspolitisch wiedererwachtes Feuilleton, Mathias Greffrath die Zeit gekommen, „Ernst zu machen mit unseren Einsichten, mit der Wiedereroberung der kaputten Parlamente, Redaktionen, Fakultäten“. Stattdessen glotzt weiter alles auf einen früheren Osnabrücker Ratsherr und seine Auslegung des Wahrheitsbegriffs. Wenn „die Einsicht in manche Notwendigkeit der Politik”, von der Brandt einst sprach, nicht mehr von den Parteien zu erwarten ist, oder diese jedenfalls die praktische Konsequenz daraus fürchten, wer soll dann für den rettenden Schock sorgen?