Ein Ort neuer Möglichkeiten

Thüringen Erneut wird deutlich, wie die AfD das Parteiensystem transformiert. Aber bedroht das Fehlen stabiler Mehrheiten die Demokratie – oder zwingt es sie auf neue Wege?
Nach der Wahl ist vor dem Demokratielabor. Bodo Ramelow hatte das schon geahnt
Nach der Wahl ist vor dem Demokratielabor. Bodo Ramelow hatte das schon geahnt

Foto: Christof Stache/AFP via Getty Images

Starke Linkspartei, beängstigendes AfD-Ergebnis, schwierige Regierungsbildung – was lässt sich über das Wahlergebnis von Thüringen sagen, wenn nicht bloß wiederholt werden soll, was vor dem Sonntag auch schon klar war?

Eine deutlich gestiegene Beteiligung zeugt von der schon länger anhaltenden Repolitisierung der gesellschaftlichen Debatten. Dabei geht es weniger um Einzelthemen, sondern um gesellschaftspolitische Richtungsfragen. Damit sind wir schon bei der AfD, deren Wähler*innen man schon lange nicht mehr mit dem Hinweis auf Frustration oder Protestverhalten von der Tatsache freisprechen kann, dass sie einer rechtsradikalen Partei ihre Stimme geben, die gerade in Thüringen keinen Hehl daraus macht, was sie anstrebt. Ein Großteil ihrer Anhänger*innen stehe „politisch hinter dem rechtsradikalen Thüringer Landesverband“, so hat das gerade noch einmal das Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft Jena in einer Studie dargelegt. Wer für die Höcke-Truppe votiert, will eine andere Gesellschaft. Eine, vor der man sich fürchten muss.

„Der AfD gelingt es auch, die unterhalb der öffentlichen Meinungen und der Staatsräson in Ost und West erhalten gebliebenen nationalistischen, völkischen, auch rassistischen Haltungen und Mentalitäten zu sammeln“, so hat das nach den Wahlen in Sachsen und Brandenburg der Parteienexperte Horst Kahrs formuliert. Das Problem – dieser Ausdruck klingt schon verniedlichend – wird so schnell also nicht wieder verschwinden.

Die Stärke der AfD ist sowohl Ausdruck der Transformation des Parteiensystems als auch ihre Treiberin. Die Krise der alten Volksparteien gärt schon viel länger, sie hat auch etwas mit dem Hinterherlaufen hinter Stimmungen zu tun, mit einer Ökonomisierung von Politik, die sich als Lieferant für „Produkte“ versteht, von denen man durch Umfragen herauszufinden glaubt, dass sie auch gewünscht sind. Das aber entspricht offenbar immer weniger dem, was eine große Mehrheit wirklich umtreibt: Antworten auf große Fragen wie die Klimakrise, auf neue Unsicherheiten in einer globalen Welt, auf tief reichende Veränderungen des Alltags der Beschäftigten und der auf einen Sozialstaat Angewiesenen vorgeschlagen zu bekommen.

Jenseits der Farbspiele

Zugleich ändert eine starke AfD inzwischen fundamental die Bedingungen, unter denen die anderen Parteien solche Lösungen suchen und umsetzen könnten. Das lenkt den Fokus auf eine andere Frage: Welche politischen Optionen bestehen für jene drei Viertel der Thüringer*innen, die nicht die AfD gewählt haben? Denn gerade das wird in Thüringen nun abermals sichtbar: Regierungsbildungen werden schwieriger, neue Modelle der Kooperation müssen vereinbart werden. Die Farbenpalette nicht nur künftiger Landesregierungen wird bunter.

Das ist nicht ohne Risiko, von den Schwierigkeiten für alle Beteiligten gar nicht zu sprechen. Aber was wäre die Alternative? Dass die CDU sich auf eine irgendwie geartete Kooperation mit der AfD auf Landesebene einlässt, ist nicht zu erwarten. Andere Mehrheiten, aus denen eine „klassische“ Koalition werden könnte, liegen jenseits der politischen Fantasie oder haben keine Mehrheit. Dabei ist es nicht einmal von Belang, ob die FDP nun wirklich in den Landtag einzieht oder doch noch rausfällt.

Thüringen kann hier, und darin könnte selbst an einem Wahlabend wie diesem ein bisschen Hoffnung liegen, abermals eine Rolle als Labor des Politischen spielen, als Ort neuer Möglichkeiten. Mit Rot-Rot-Grün unter einem linken Ministerpräsidenten hat der Freistaat in den letzten fünf Jahren bereits gezeigt, dass dies keineswegs illusorisch ist.

Über Alternativen zu den etablierten Modellen der politischen Kooperation wird hierzulande meist nur im Krisenmodus gesprochen: Wie oft musste man das Wort „unregierbar“ in den Wahlvorberichten lesen. Aber stimmt das denn? Ist Thüringen, wie es in einer Zeitung hieß, tatsächlich das „Land der begrenzten Möglichkeiten“? Anders gefragt: Ist es nicht gerade deshalb sinnvoll, nach neuen Möglichkeiten zu suchen?

Die alten Gleise verlassen

Bodo Ramelow hat die nun kommende Pattsituation im Landtag lange vorhergesehen. Der Landesverfassung nach würde Ramelow so lange im Amt bleiben, bis ein neuer Ministerpräsident bestimmt ist. Mit der schon erfolgten Verabschiedung eines Landeshaushaltes für das Jahr 2020 hat Thüringen jene Zeit, die es nun bräuchte, um „im Labor“ die Ingredienzien zu sichten, das eine auszuprobieren, das andere zu überlegen. Und na klar: Notfalls auch wieder zu verwerfen.

Bereits erwogen worden sind Modelle wie eine Minderheitsregierung oder wechselnde Mehrheiten. Das würde das Parlament nicht schwächer, sondern stärker machen, offene Abstimmungen abseits von koalitionärer Disziplin politisieren die Auseinandersetzung, heben den Inhalt vor die bloße Machtlogik. Es könnte über zusätzliche Verhandlungsebenen zu einer Belebung des politischen Diskurses kommen, wie man in einer Untersuchung des Politikwissenschaftlers Stephan Klecha nachlesen kann. Das alles hier bedacht immer unter der Voraussetzung, dass die Brandmauer zur AfD auch künftig steht.

Die Parteien kämen so vielleicht auch wieder dazu, unter „Repräsentation“ nicht eine Angebotswirtschaft zu verstehen, die vor allem und mit Blick auf eigene Umfragewerte auf die Meinungen des Souveräns reagiert oder auf das, was man dafür hält. Schluss gemacht werden müsste mit dem Anbeten der „Stabilität“ von Regierungen, als ob das allein schon die Verhältnisse verbessern würde. Schluss gemacht werden müsste mit dem extremismustheoretischen Unfug, der im Reden von der angeblichen „Mitte“ steckt, aus dem die Linkspartei dann stets herausgemeint wird. Zur Erinnerung: In Thüringen ist die Linkspartei unter Ramelow deutlich stärkste Kraft geworden.

Man wird das Ergebnis noch genauer analysieren müssen, die wachsende Personalisierung des Politischen hat sich nicht nur im Freistaat gezeigt, aber auch hier hat sie den kleineren Koalitionspartnern offenbar Luft zum Atmen genommen. Ein Risiko von Alternativen zu den bisher üblichen Modellen des Regierens mag auch darin liegen, dass bei Kooperationen zwischen Parteien unterschiedlicher Lager – etwa Linkspartei und CDU – das rhetorische Ressentiment gegen die „Altparteien“ neue Nahrung findet.

Aber wirklich zugkräftige Argumente gegen ein bisschen Mut zum Verlassen der eingefahrenen Gleise sind das nicht. Die neue Unübersichtlichkeit in Parlamenten ist vor allem eines: die neue Normalität. Dies anzuerkennen heißt keinesfalls, auch die AfD als „normal“ hinzunehmen.

Es könnte aber heißen, den Versuch einer Erneuerung der politischen Kultur, der öffentlichen Debatte zu unternehmen, in der es wieder und attraktiver möglich wird, „Vorschläge zu machen, wohin und nach welchen Regeln sich Wirtschaft und Gesellschaft entwickeln sollen“, wie ebenfalls der Parteienexperte Horst Kahrs schrieb. Vorschläge, hinter denen sich unterschiedliche Milieus versammeln können, Vorschläge, die Widersprüche von Interessen kooperativ bearbeiten statt zu verschweigen oder zu Ungunsten einzelner Gruppen zu übergehen, Vorschläge, die einer Solidarität der Praxis wieder mehr Raum verschaffen, statt gegeneinander auszuspielen. Thüringen hat in den vergangenen fünf Jahren unter den limitierten Bedingungen von Landespolitik in diese Richtung schon Schritte unternommen. Nun haben sich die Bedingungen zum Weiterlaufen verändert. Das Labor Thüringen – es könnte im guten Sinne eines bleiben.

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