Lob des Rücktritts

Franziska Drohsel Franziska Drohsel findet ihr Staatsexamen wichtiger als die Partei und zieht sich vom Juso-Vorsitz zurück. Das hat ihr viel Beifall gebracht, aber nicht nur

Franziska ­Drohsel, Jahrgang 1980, ist seit 2007 Juso-Vorsitzende. Zum Bundes­kongress im Juni hat die Berlinerin ihren Rücktritt angekündigt

Zur politischen Debatte hierzulande gehört neben vielen anderen Klagen auch diese: Wir haben zu viele von den Erfahrungen der Wirklichkeit abgehobene Berufspolitiker, jene Gremienkönige und Kreisverbandsfürsten, Karriere-Menschen, die, wie Max Weber das einmal formuliert hat, mehr von der Politik leben als für diese. Als im vergangenen Herbst der neu gewählte Bundestag zusammentrat, waren Abgeordnete, die als Tätigkeit „Mandatsträger“ angegeben hatten, den Lehrern, Rechtsanwälten und Betriebswirten bereits zahlenmäßig überlegen. Der Parteienstaat bringt sein eigenes Personal hervor, auf Rekrutierungswegen, die eine parallele berufliche Karriere verstellen. Wer etwas werden will in SPD, CDU und Co., der muss vor allem eines investieren: sehr viel Zeit.

Umso beachtlicher, wenn einmal jemand den anderen Weg einschlägt. Vor ein paar Tagen hat die Juso-Vorsitzende Franziska Drohsel ihren Rücktritt auf dem im Juni bevorstehenden Bundeskongress angekündigt. Ihre Gründe seien „ausschließlich persönlicher und nicht politischer Natur“, schrieb sie an die „lieben Genossinnen und Genossen“. Nie habe sie den Chefsessel „als Sprungbrett in die Berufspolitik“ gesehen. Deshalb sei es nun an der Zeit, „die Voraussetzung dafür zu schaffen, dass ich mich auch in Zukunft für unsere Überzeugungen an welcher Stelle auch immer einsetzen kann. Diese Voraussetzung ist für mich der Abschluss meiner Ausbildung, das zweite juristische Staatsexamen.“

Vorbild Niels Annen

Drohsel mag bei ihrer Entscheidung einen ihrer Vorgänger im Auge gehabt haben: Niels Annen. Der Sozialdemokrat führte die Jusos von 2001 bis 2004, wurde ein Jahr darauf Bundestagsabgeordneter, saß im Parteivorstand, war Vizevorsitzender der SPD-Linken. Eine rasante Politikerkarriere – die Ende 2008 auf einer Nominierungskonferenz in Hamburg jäh ans Ende kam. Annen verlor das Rennen um seine Direktkandidatur. Sein Studium hatte er da bereits abgebrochen – nach 28 Semestern ohne Abschluss. Erst 2009 machte er, um nicht ganz ohne dazustehen, einen Bachelor in Geschichte. Heute arbeitet Annen beim German Marshall Fund in Washington.

Drohsel hat ihre Entscheidung nicht nur Beifall eingebracht. Manche glaubten ihr einfach nicht. Der Grund für den Rückzug zugunsten des Examens (Drohsel ist bereits promoviert), wurde in der Bild zum „angeblichen“. Andere wiederum waren so freigiebig mit ihrem „Respekt vor der Entscheidung“, dass es fast schon wie ein Frohlocken über Drohsels Weggang klang.

Die Berlinerin kam mit 15 zu den Jungsozialisten, politisch dazu angeregt weniger durch die „soziale Frage“ als durch Empörung über ein Umweltverbrechen: Frankreichs Atomtests an den Mururoa-Atollen. Mit 25 rückte sie an die Spitze des Berliner Landesverbandes, im November 2007 schließlich ihre Wahl an die Juso-Spitze. Drohsel hält sich heute nicht ohne Berechtigung zugute, das politische Profil des Verband als „linke“ Organisation wieder etwas geschärft zu haben. Das liegt nicht nur an den 63 Thesen – Für eine Linke der Zukunft, die unter ihrer Ägide diskutiert und beschlossen wurden. Sondern auch an einer von Drohsel mitgeprägten kulturellen Außenwirkung der Jungsozialisten, an der – wie man heute sagen würde – Performance der Chefin. Wenn Bild sie eine „linke Göre“ nennt oder die Welt ihr das Prädikat „radikale Gefühlssozialistin und idealistische Überzeugungstäterin“ nachwirft, dann kann man das als Lob verstehen. Selbst wenn es so nicht gemeint ist.

Rot-rote Vordenkerin

Drohsel ist vielleicht nicht als große Theoretikerin in Erscheinung getreten. Bei den Jusos blies ihr der Wind der gemäßigten Strömungen entgegen. Journalisten legten ihr gegenüber mitunter eine Hochnäsigkeit an den Tag, die Überlegenheit demonstrieren wollte, in Wahrheit aber nur die Leere derer anzeigte, denen politische Angelegenheiten allenfalls „Themen“ sind – und keine Herzensangelegenheiten. In Zeiten, in denen die SPD über das Agenda-Erbe tief zerstritten war und die Parteilinke wenig glücklich mit der großen Koalition, war Drohsel eine der wenigen Sozialdemokraten, denen man die schier körperliche Spannung auch wirklich abnahm, die sich auftun musste, weil Loyalität gegenüber der Partei und die politische Überzeugung miteinander rangen. Drohsel hat für eine rot-rote Annäherung plädiert, als das selbst auf dem linken SPD-Flügel nur wenigen opportun erschien. Sie tat es nicht nur aus strategischer Überlegung, sondern als Mensch. „Charmant wirkende naive Konsequenz“ hat das nach ihrer Rücktrittsankündigung jemand genannt. Sie war, wie sich jetzt zeigt, ihrer Zeit damit voraus.

Wenn Ende des Monats der linke Flügel der SPD zu seiner Jahrestagung in Berlin zusammenkommt und darüber diskutiert, welche Rolle die SPD-Linken in Zeiten der Opposition überhaupt haben, sitzt Drohsel noch als Juso-Vorsitzende mit auf dem Podium. Ihr Rückzug, hat jetzt eine Zeitung geschrieben, sei ein schwerer Schlag für die sozialdemokratische Linke. Das stimmt wohl – und auch wieder nicht. Denn paradoxer Weise ist es gerade Drohsels Entscheidung gegen das Amt, die helfen könnte, ein wenig schmeichelhaftes Bild zu korrigieren: die Jusos als Sprungbrett für Parteikarrieren, die SPD-Linken als letztlich der Parteiräson verpflichtete Papiertiger.

Wer vollends Politik als Beruf betreiben will, hieß es bei Max Weber, „hat sich jener ethischen Paradoxien und seiner Verantwortung für das, was aus ihm selbst unter ihrem Druck werden kann, bewusst zu sein“. Vielleicht erklärt auch das, warum Franziska Drohsel erst einmal Juristin werden will und dafür den vorderen Politikerreihen den Rücken kehrt. Gelegenheit, genügend Erfahrungen mit dem Betrieb zu machen, hatte sie jedenfalls.

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Geschrieben von

Tom Strohschneider

vom "Blauen" zum "Roten" geworden

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