Lotterie mit Legitimitätsproblem

Bundestag Die FDP schaltet die Ampel ab, die Grünen fahren nicht nach Jamaika und die SPD will nicht mit der Linken: Eine Wahl, die diesen Namen noch verdient, ist das nicht mehr

In den vergangenen Tagen war viel von Überhangmandaten die Rede. Inzwischen singen es schon die Drittklässler auf den Schulhöfen: Der Effekt entsteht, wenn eine Partei in einem Bundesland über die Erststimmen mehr Direktmandate erhält, als ihr nach dem bundesweiten Verhältnis der Zweitstimmen an Sitzen zustehen. Bei den letzten Wahlen 2005 erhöhte sich die reguläre Zahl der SPD-Abgeordneten auf diese Weise um neun, sieben kamen bei der CDU dazu.

Nun sieht die Lage etwas anders aus: Weil die Merkel-Partei als stärkste Kraft weit von der 50-Prozent-Marke entfernt ist, aber die SPD als „Verfolgerin“ immer noch zweistellig zurückliegt, fallen bei der CDU womöglich 20 Überhangmandate an – bei der SPD erwarten die Experten gerade einmal zwei. Unter dem Strich könnte es nach diversen Projektionen für Schwarz-Gelb schon für eine Bundestagsmehrheit reichen, wenn CDU, CSU und FDP zusammen auf etwa 45 Prozent kommen. Aktuell liegen die Parteien locker darüber.

Überhangmandate könnten die Wahl also entscheiden. Die Aufregung ist groß – auf beiden Seiten. Die Union warf den Sozialdemokraten vor, mit der Diskussion der Demokratie zu schaden und pocht darauf: Mehrheit ist Mehrheit. Auch die Warnung der SPD, Merkel soll sich bloß nicht wagen, auf Basis solcher Extrasitze eine „illegitime Regierung“ zu bilden, wurde kritisiert. Schließlich hätten die Sozialdemokraten im Sommer doch die Gelegenheit gehabt, zusammen mit FDP, Linken und Grünen das Wahlrecht vor Ablauf der Karlsruher Frist im Juni 2001 auf verfassungsgemäßen Stand zu bringen. Sie haben es nicht getan. Aber so richtig es ist, der SPD vorzuwerfen, nicht den Mut zu einem Verstoß gegen den Koalitionsvertrag gehabt zu haben – spätestens im Bundesrat wäre die Novelle wohl ohnehin gescheitert.

Das Schicksal der SPD lässt sich auch nicht auf den Makel des Wahlrechts schieben. Die Sozialdemokraten verlieren mit Pauken und Trompeten – und dafür gibt es politische Gründe. Die lange Phase einer Politik der Entsozialdemokratisierung seit spätestens 1998 lässt sich nicht in einem kurzen Wahlkampf vergessen machen. Und auch nicht durch eine empörte Rechtsdiskussion übertünchen.

Es bleibt dennoch dabei, dass sich nach dem Wahlsonntag zum ersten Mal eine Mehrheit der Zweitstimmen wegen der Überhangmandate als Minderheit im Bundestag wiederfinden könnte. Für eine schwarz-gelbe Regierung gebe es dann „ein Legitimitätsproblem“, sagt der Politikwissenschaftler Frank Decker. Und er steht nicht allein mit dem Hinweis, es sei problematisch, wenn eine Mehrheit nicht als solche zur Geltung komme.

Aber kann man überhaupt noch einfach so von Mehrheiten reden? Die Ampel-Koalition hätte eine, für Jamaika würde es reichen. Selbst eine rot-rot-grüne „Mehrheit“ ist nicht völlig unwahrscheinlich. Und was bringt es? Die Zweitstimme, der Teil des Votums, der traditionell den Wählerwillen zum Ausdruck bringt, wird nicht allein durch das Problem irgendwelcher Überhangmandate entwertet. Sondern durch Parteiapparate, die den Auftrag, an der politischen Willensbildung mitzuwirken, als Erlaubnis ansehen, gleich alles selbst zu entscheiden – etwa durch den Ausschluss von Koalitionen. Die SPD hätte ja mal eine Mitgliederbefragung durchführen können, mal sehen, was dabei rausgekommen wäre.

Ach, Mehrheiten. Seit 2005 gab es eine im Parlament, die eine linke genannt wurde – sie ist nie als politischer Gestaltungshebel angesetzt worden. Es bringt heute noch viel weniger als vor vier Jahren, darüber nachzudenken: Varianten, die man politisch für falsch, klug oder zumindest für das geringere der zur Auswahl stehenden Übel halten kann, die stehen zwar im Schaufenster, sind aber gar nicht wirklich im Angebot. Die FDP schaltet die Ampel ab, die Grünen fahren nicht nach Jamaika und die SPD will ebensowenig mit der Linken wie umgekehrt: Wenn am Tag danach nicht jemand noch die Bundes-Ypsilanti macht, gibt es Schwarz-Gelb oder Schwarz-Rot. Für den Teil der Wähler, die nicht den Argumenten der Ausschließerei folgen kann, ist ein bisschen wie bei einer Lotterie. Eine Wahl, die diesen Namen noch verdient, ist es jedenfalls nicht.

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Geschrieben von

Tom Strohschneider

vom "Blauen" zum "Roten" geworden

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