Mobiliar für offene Räume gesucht: das Projekt "Linksreformismus"

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Zugegeben, ein besonders guter Sammelbegriff für linke, radikale Reformdiskussionen über Parteigrenzen und Bewegungslinien hinweg ist „Crossover“ nie gewesen. In den neunziger Jahren war die Marke wenigstens noch neu. Jetzt spricht Christoph Spehr von einem leeren Börsenmantel, in den heute Formationen wie das Institut Solidarische Moderne oder die „Oslo-Gruppe“ schlüpfen. Und Albrecht Müller von den Nachdenkseiten.de hat „Schwierigkeiten, mit diesem Begriff etwas Konkretes zu verbinden“. Es mag anderen ebenso gehen: Aber wie soll man nennen, was immer öfter nach Einordnung, Vergleich und Systematisierung schreit? Auch der Freitag hat keine endgültige Antwort darauf, die in Kooperation mit dem Progressiven-Zentrum organisierte Debatte hört hier auf den auch nicht sehr überzeugenden Namen „Projekt Linke Mitte“. Nun gibt es unter der Überschrift „Linksreformismus“ einen weiteren Versuch, die Diskussion über Möglichkeiten und Grenzen einer anderen Politik zu organisieren.

Die Dringlichkeit der Probleme, schreiben Leonhard Dobusch und Rainer Land, die zu den Initiatoren gehören, habe zugleich auch „die Sehnsucht nach radikaler Kritik und ebensolchen Lösungen“ befördert. Zu praktischen Konsequenzen hat das allerdings bisher nicht geführt, eher ins Gegenteil einer neoliberalen Renaissance. Der Fortgang sei aber „keineswegs vorherbestimmt: Im schlimmsten Fall bereitet radikale Kritik den Boden für den verschärften Einsatz neoliberaler ‚Medizin‘ in Gestalt von Sozialabbau, Lohnzurückhaltung und Standortwettbewerb. Möglicherweise aber eröffnet die Opposition aus radikaler Kritik und deligitimiertem Neoliberalismus auch neue Räume für linksreformistische Politik“. Und um das Mobiliar für genau diese Räume soll es beim Projekt „Linksreformismus“ gehen.

Erstens brauche man „Konzepte, Forderungen und (…) progressive Politikprojekte“, die immer dann am erfolgreichsten gewesen seien, „wenn sie konkrete, im Hier und Jetzt verwirklichbare Ziele formuliert und dafür mobilisiert haben“. Die Autoren liefern drei Beispiele mit, sicher nicht ohne Hintersinn in rot-rot-grünen Farben: die alte sozialdemokratische Forderung nach Arbeitszeitverkürzung, die grünen Pläne zum Atomausstieg oder die Mindestlohnkampagne der Linkspartei. Zweitens müsse die Frage beantwortet werden, „wie sich gesellschaftliche Kräfteverhältnisse und hegemoniale Diskursstrukturen überwinden lassen, die einer Verwirklichung derartiger Politikprojekte mehr denn je entgegenstehen“. Wie lassen sich Menschen erreichen und mobilisieren, wo doch die Linke organisatorisch zersplittert und eine Mehrheit der Bevölkerung in individualisiert-fragmentierten Identitäten feststeckt? Drittens zielt „Linksreformismus“ auf ein „theoretisches Paradigma zur Systematisierung sowohl konkreter Politikprojekte als auch diesbezüglicher Mobilisierungsstrategien“. Hinter dieser etwas universitären Formulierung verbirgt sich nichts weniger als die Suche nach einer großen Erzählungen, wie sie einst der „Sozialismus“ war. Die Sozialdemokratie hat diese Hülle allerdings theoretisch entleert bzw. seine Entleerung zugelassen. Das angepeilte „neoreformistische Paradigma“ werde, schreiben die Autoren, heute aber „nur ein pluralistisches sein“ können.

Das ganze Vorhaben ist im Umfeld der sozialwissenschaftlichen Zeitschrift Berliner Debatte Initial entstanden und soll im Herbst des Jahres in eine Tagung in Berlin münden. Teilnehmen können dort nur Autoren, die auf den Call for Papers mit einer Einsendung reagieren. Zum Organisationsteam gehören unter anderem Rainer Land von der Berliner Debatte Initial, die linke Landtagsabgeordnete Birke Bull, der Sozialdemokrat Hans Misselwitz, Stefan Stache von der linkssozialdemokratischen SPW und der frühere PDS-Strategie Thomas Falkner. Im Internet wird eine bisher noch nciht über das Beta-Stadium hinausgewachsene Website das „Diskursprojekt“ begleiten, unter anderem sollen dort theoretische und empirische Arbeiten zum Thema Linksreformismus dokumentiert werden. Und vielleicht bringen die Anstrengungen ja auch einen neuen Sammelbegriff hervor, der dann etwas besser trägt als „Crossover“.

Mehr über linke Reformdebatten und rot-rot-grüne Annäherungen gibt es auf lafontaines-linke.de zu lesen. Die bisher ausführlichste Übersicht aktueller Beiträge zum Institut Solidarische Moderne, zur "Oslo-Gruppe" und weiteren aktuellen "Crossovern" findet sich hier.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Tom Strohschneider

vom "Blauen" zum "Roten" geworden

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