Münteferings Verfassung, Steinmeiers Vergangenheit

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Nach dem Motto „Im Osten wird die Wahl gewonnen” rollt seit Wochen eine brackige Welle des Verständnisses mit dem ach so schweren DDR-Los der Neufünfländer durch die Medien. Zwischen Elbe und Oder hätten die Menschen doch auch nur versucht, ein anständiges Leben zu führen, heißt es nun - immer öfter, desto näher der Wahltag rückt. Anständige Deutsche, das klingt ein bisschen nach willige Vollstrecker, aber das ist ein anderes Thema. Zurück zum Zonenschicksal, das auch nach der Wende sich fortsetzte, worauf gerade Franz Müntefering hingewiesen hat. Mit der Wiedervereinigung war nicht alles in Ordnung, tatsächlich?

Knapp 20 Jahre nach der Wende, in denen, wer wollte, wissen konnte, was jetzt immer noch für Schlagzeilen sorgt, hat dem Müntefering der ideelle Gesamt-Ossi offenbar auch von großer staatsrechtlicher Skepsis unter den Seinen berichtet: „Eigentlich war doch vorgesehen, dass es nach der Einheit eine gemeinsam erarbeitete Verfassung gibt, deshalb hat die Bundesrepublik ja nur ein Grundgesetz. Aber ihr habt uns euer Grundgesetz einfach übergestülpt, anstatt eine gemeinsame Verfassung zu schaffen”, sagt der Ostdeutsche durch sein Medium Müntefering hindurch. Und der schlussfolgert: „Das muss man aufarbeiten.”

Die Zeitungen haben aus einem Interview, in dem diese Sätze standen, allerlei herausgelesen. Etwa, dass der SPD-Chef eine Diskussion über eine gesamtdeutsche Verfassung anregen wolle, was die Blockwarte der veröffentlichten Meinung umgehend als „dummes Zeug“ verwarfen: „Hände weg vom Grundgesetz!“ Die Aufregung hat trotzdem ihren Zweck erfüllt, je lauter es krakelt, desto heller strahlt nun der Müntefering als Ossi-Versteher. Dabei hat er nur gefordert, etwas „aufzuarbeiten”, was im besten Fall bedeutet, dass eine historische Kommission gebildet wird - und im Übrigen alles so belassen bleibt, wie es ist.

Apropos Aufarbeitung. An dieser Stelle darf an einen Aufsatz aus dem Jahr 1990 erinnert werden, zu dem der heutige Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier als Co-Autor beigetragen hat: Es handelt sich um ein flammendes Plädoyer gegen den „Beitritt” der DDR nach Artikel 23 Grundgesetz und für eine neue Verfassung. Nachzulesen unter anderem in dem vereinigungsskeptischen Sammelbändchen Alles Banane, erschienen 1990 im PapyRossa Verlag. Auf welcher konstitutionellen Basis die Vereinigung erfolgen sollte, war damals eine viel diskutierte Frage. Steinmeier und seine Mitverfasser gehörten zu jener Minderheit, die die Ersetzung der ‚Revolution von unten” durch eine regierungsamtlich vereinbarte ‚Reform von der Seite‘” scharf kritisierten. Die “Grundfrage der demokratischen Legitimation” des neuen Staates sei über den Kopf des Souveräns hinweg und damit unheilbar falsch beantwortet worden. Das Fazit: „Wenn nicht alles täuscht, bringen die Deutschen gerade wieder ein wenig Abstand zwischen sich und die klassischen Demokratien des Westens.”

Wenn nicht alles täuscht, ist der vom damaligen „wissenschaftlichen Mitarbeiter am Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Gießen” beklagte Abstand heute nicht mehr so groß, als dass der heutige SPD-Politiker sich nicht anschicken würde, ein hohes Amt in dieser Demokratie anzustreben. Natürlich ist diese ganz persönliche Wende von Steinmeier inzwischen ordnungsgemäß„aufgearbeitet“ worden: In seinem Wahlkampf-Buch Mein Deutschland empfiehlt sich der Sozialdemokrat aus dem Westen unter anderem mit einem ebenso schmeichelhaften wie eitlen Hinweis auf seine Rolle in der damaligen Diskussion und die historische Strahlkraft der Ostdeutschen. Dem Plädoyer für ein gemeinsames Grundgesetz habe seinerzeit, so der SPD-Kanzlerkandidat, ein „urdemokratischer Impuls zugrunde” gelegen, ein „Ausdruck des Respekts vor dem demokratischen Aufbruch in der DDR”. Na toll, doch leider, leider Pusteblume. Denn das Werben für eine neue Verfassung, so sieht der Steinmeier des Jahres 2009 den Steinmeier von 1990, sei zwar „eine ehrenwerte, am Ende aber auch unrealistische Vorstellung” gewesen.

Manche werden es vergessen haben: Die Debatte um eine neue deutsche Verfassung lief damals noch eine Weile, bald nur noch als Parteienstreit über eine Reform des Grundgesetzes, erst behindert und dann dominiert von der in Bonn regierenden schwarz-gelben Koalition. Lange bevor 1994 eine auf Marginalien beschränkte Verfassungsreform zu einem für viele, darunter auch Sozialdemokraten, enttäuschenden Abschluss kam, war der „urdemokratische Impuls” aus dem Osten verpufft. Steinmeier war da längst Bürochef von Gerhard Schröder geworden. Und der Spiegel schrieb: „Die Revolution ist tot.“

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Geschrieben von

Tom Strohschneider

vom "Blauen" zum "Roten" geworden

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