Republikbewegendes

Thüringen Minderheitsregierung, das klingt erst mal doof. Dabei bietet sie viele Chancen
Ausgabe 46/2019

Vor ein paar Tagen sorgte eine Meldung auf Twitter für Aufsehen: „CDU führte konkrete Gespräche mit der AfD“, so die Schlagzeile. Und das, so las man weiter, obwohl CDU-Fraktionschef Mike Mohring „zuvor jede Kooperation ausgeschlossen hatte“. Passiert da etwas Heimliches, Ungeheuerliches hinter den Kulissen der Erfurter Nachwahlpolitik? Eine Kooperation mit den Rechtsradikalen gegen Rot-Rot-Grün? Einige Politiker und Journalisten verbreiteten die irritierende Kunde weiter. Bis es jemandem auffiel: Die Meldung ist von 2014. Ein Kollege schrieb: „Geschichte wiederholt sich hoffentlich nicht.“

Was hätte sein können

Es gibt das berühmte Diktum von Karl Marx, dass so etwas eben doch passiert, „das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce“. Aber was, wenn es nach der Landtagswahl anders gekommen wäre, nur ein kleines bisschen anders, aber mit großen Wirkungen?

Vielleicht so: Es ist der 28. Oktober 2019, Mike Mohring macht sich am frühen Montagmorgen auf den Weg ins Fernsehstudio, eine schwere CDU-Klatsche im Nacken, unklare Mehrheitsverhältnisse, die Frage einer Kooperation mit der Linkspartei liegt wie ein zwei Tonnen schwerer Stein auf dem Tisch, man kann ihn nicht mal eben mit dem Handrücken wegfegen. „Die CDU in Thüringen ist bereit für Verantwortung, wie auch immer die aussehen kann und sollte“, sagt Mohring. „Deswegen muss man bereit sein, nach diesem Wahlergebnis auch Gespräche zu führen. Ohne was auszuschließen.“ Im Übrigen liege die Hoheit für den weiteren Erfurter Weg „alleine in Thüringen“.

Danach fährt Mohring in die CDU-Bundeszentrale, die Gremien tagen, zerknirschte Gesichter ob des Wahlausgangs – aber der Geist von Altmeister Bernhard Vogel ist in allen Köpfen: Man könne sich doch „Gesprächen nicht versagen“, keine Koalition mit der Linkspartei, das ist klar, aber daneben geht ja auch was. Auch die Thüringer Wirtschaft sieht das so: „Neue Situationen erfordern neue Maßnahmen“, heißt es vom Unternehmensverband. In der CDU-Bundeszentrale stimmt man zu, es wird eine Sprachregelung gesucht, Mohring bekommt sein Mandat. Nur eines nicht: irgendwelche Offenheit zur AfD zeigen. Und Mohring weiß auch: Selbst wenn er so denken würde, sollte er in dieser Runde nie und nimmer Sätze sagen wie: „Ramelow ist inhaltlich leer. Und wir werden als Union alles mit ihm machen können.“

Denn natürlich haben auch die Gegner der „neuen Maßnahmen“ Ohren, SMS-fähige Telefone und sie wissen, an wen sie sich wenden müssen. In der Bild-Zeitung wetzen sie ohnehin schon die Tastaturen, ein Gespräch mit Mohring wird als „Verhör“ verkauft, die alte Leier: Eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei sei Verrat der CDU an einem „ihrer letzten heiligen Werte“, der „Markenkern der Partei der Wiedervereinigung“ sei bedroht. Doch Mohring bleibt aufrecht, die CDU bleibt es fast ausnahmslos auch, keine Heckenschützen, kein verbales Störfeuer.

Eine neue Situation erfordert auch neues Verhalten. Hier wird es geliefert. Zumal alle wissen: Wer jetzt gegen Gespräche mit der Linkspartei auftritt, macht jene lauten Minderheiten stark, die am liebsten über die Brandmauer zur AfD hinüberklettern wollten. Ortsfunktionäre aus der vierten Reihe. Ein paar Anhänger der Werte-Union, die von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als „eine kleine Gruppe am rechten Rand der CDU“ beschrieben wird. Auch ein früherer Verfassungsschutzpräsident treibt dort gern sein Wesen.

Aber die CDU im ganzen bleibt stabil. Der Generalsekretär der CDU wehrt einen Vorstoß von der Vorgestern-Fraktion ab, die ihn zu einem Gastbeitrag gegen die Linkspartei drängen wollen. Stattdessen gibt Paul Ziemiak einen Text heraus, in dem er CDU und AfD „wie Feuer und Wasser“ nennt, eine Zusammenarbeit wäre „Verrat an der Christdemokratie“. Mohring sieht sich bestätigt und unterstützt, er nimmt das vertrauliche Angebot von Bodo Ramelow ganz vertraulich an. SMS werden ausgetauscht, aber nicht weitererzählt. Es wird jetzt eine Weile dauern, das wissen alle Beteiligten. Und es wird kompliziert. Der Erfurter Weg ist eine ziemlich steinige und steile Straße.

Mohring wird tags darauf natürlich auf seine Kanäle zu Ramelow angesprochen. Er reißt sich am Riemen: „Private Kommunikation ist aus gutem Grund vertraulich.“ Als sich der Moderator einer Talkshow später nachfragend an ihn heranlanzt, lächelt der CDU-Politiker bloß. Er denkt an das Bild-Interview, Schweigen ist in dieser Situation eine „Frage des Anstands“.

Apropos Anstand, dass das Blatt das Gespräch zum „Verhör“ erklärt hat, wurmt Mohring. Ein Bonmot von Max Goldt kommt ihm in den Sinn: „Diese Zeitung ist ein Organ der Niedertracht.“ Auch dagegen muss man nun aufrecht bleiben. Drei Tage ist die Wahl erst her, der junge CDU-Fraktionschef blickt in eine ungewisse aber auch spannende Zukunft. Ja, eine neue Situation ist das. Thüringen, die politische Landschaft, CDU und Linkspartei – er erinnert sich an den Morgen am Tag nach der Wahl, an seine Worte: „Ruhe und Besonnenheit“.

Was wirklich war

Hätte, hätte, Fahrradkette – die ersten drei Tage nach der Wahl sind in Wahrheit anders verlaufen. Die Lage ist dadurch nicht einfacher geworden, sondern komplizierter. Mike Mohring hat daran großen Anteil, taktisch unsicher, strategisch unvorbereitet, machtpolitisch ungeschickt. Hat er mit dieser Lage etwa nicht gerechnet? In der Talkshow, in der er in Wahrheit auch die Vertraulichkeit Ramelows herumplappernd brach, sagt Mohring: Es sei ein Wahlergebnis „mit dem man nicht rechnen konnte. Vielleicht wollte ich auch nicht damit rechnen.“ Markus Lanz darauf: „Aber damit musste man doch rechnen.“ Mohring: „Klar, konnte man.“

Konnte? Und doch lässt sich die verfahrene Kiste nicht allein auf Mohring schieben. Sein Versuch, unmittelbar nach der Wahl die Tür zur Linken entgegen vorheriger Absagen ein kleines bisschen offenzuhalten, ist vor allem von Politikern der Union vereitelt worden, die Thüringen nur zum Spielball ihrer eigenen Machtlogiken gemacht haben.

Die Mohring-Debatte in der CDU war nicht zuletzt eine um den Kopf der Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer und gegen den Einfluss Angela Merkels. Nicht wenige haben nach dem Motto „Mohring schlagen, AKK und Merkel treffen“ agiert und dabei, man musste das ahnen können, jene angefeuert, die tatsächlich mit Rechtsradikalen reden wollen. Wie ein ausgerollter brauner Teppich für die, die glauben, man müsse die CDU noch weiter nach rechts abbiegen lassen.

Der Appell von ein paar Thüringer Lokalpolitikern zu Gesprächen mit der AfD, der eine Presse bekam wie sonst höchstens ein Thüringer Ministerpräsident, hatte den Geist der Werte-Union im Tank. Dass damit die Brandgefahr enorm steigt, demokratiepolitisch betrachtet, ist denen, die „Doktor Maaßen“ anhimmeln, vermutlich egal. Andere in der CDU begannen, das wachsende Risiko zu riechen.

Generalsekretär Zimiak, der es tatsächlich vollbracht hatte, nach den großen AfD-Wahlerfolgen von Thüringen erst einmal per Gastbeitrag auf die Linkspartei einzudreschen (Kommunisten!), beeilte sich nun, Tage später, woanders gastbeitragend auch einmal die AfD zu kritisieren. Es ging offenbar darum, Risse in der Brandmauer zu verspachteln, zu denen man gerade eben noch selbst beigetragen hatte.

Dass Mike Mohring noch mit einer „Simbabwe-Idee“ hausieren ging, als die Hälfte der für eine solche Minderheiten-Kooperation aus CDU, FDP, Grünen und SPD nötigen Partner schon abgewunken hatte, machte die Lage in Thüringen nicht übersichtlicher. Doch entscheidend waren die drei Tage nach der Wahl - inzwischen sind sie geronnen in Beschlüssen und Absagen, aus denen man nur schwerlich eine Zukunft bauen kann.

Was gehen könnte

Worin eine solche Zukunft liegen könnte? In der Überwindung von Blockaden, die zu einem Parteiensystem gepasst haben, dass es in dieser Form nicht mehr gibt. Im Ausprobieren von demokratischen Verfahren, die unter diesen neuen Bedingungen nicht nur nötig, sondern eben auch möglich werden.

Also: Minderheitsregierung. Aber reden wir doch lieber von einer „Kooperationsregierung“. Der Politikwissenschaftler Matthias Finkemeier hat 2014 die „Flexibilisierung der Mehrheitsbildung auf Landesebene in Deutschland“ untersucht und dabei auf die Rolle der Begriffe aufmerksam gemacht – man solle nicht ein Wort zu sehr strapazieren, das nach Notstand und „defizitärem Antlitz“ klingt.

Na klar, Regieren wird nicht dadurch einfacher, dass man die Kooperationen anders ruft, die dazu nötig sind. Wer aber Chancen betonen möchte, die darin liegen, wird sich über Namen Gedanken machen müssen. Es gehe, so noch einmal Finkemeier, um „die Etablierung eines Modells“, bei dem eine Minderheitsregierung wirklich als „Kooperationsregierung“ agiert, dies hebe „ihre Rolle als Kompetenzzentrum für eine fortschrittliche Politik und Dienstleister des Parlaments hervor und zeigt, auf welche Weise institutionelle Vetopunkte und parteipolitische Blockaden überwunden werden können“.

Hier passt ein Gedanke des Politikexperten Stephan Klecha, der viel über Minderheitsregierungen geforscht hat, und dem dabei aufgefallen ist, dass solche Modelle „gerade in den Phasen von Neuorientierungen des Parteiensystems eine ungemein wichtige Funktion“ einnehmen. Sie kämen „bisher auf, wenn sich Veränderungen im Parteiensystem vollziehen“. In einem solchen Wandel befinden wir uns weiterhin, er hat sich seit 2015 mit dem Aufstieg der AfD noch einmal deutlich dynamisiert. Thüringen ist dabei nur das bisher letzte Glied einer längeren Kette.

Aber sind Minderheitsregierungen nicht teurer, weil sie auf „Hinterzimmer-Geramsche“ hinauslaufen, da mehr und komplexere Kompromisse gefunden werden müssten, die man sich dann gegebenenfalls auch „erkauft“? Auch hierzu gibt es Forschungen und diese laufen darauf hinaus, dass Minderheitsregierungen „nicht automatisch teurer als eine Mehrheitsregierung“ sind.

Abgesehen davon gibt es Beispiele. Die Politikwissenschaftlerin Eva Krick, die unter anderem in Norwegen forscht, spricht von dortigen Erfahrungen ausgehend von einer Chance, „die politische Aushandlung wieder etwas stärker in den öffentlichen Blick zu rücken“. Verhandlungen würden ohnehin ständig laufen, würden diese „öffentlicher und begründungsorientierter ausgetragen, könnte dies das Verständnis für die Funktionsweise und Legitimität von ausgleichender, konsensorientierter Politik stärken“. Es wäre ein Beitrag gegen Wahlkampfgetöse, „bei dem es vor allem um Wettbewerb und Abgrenzung geht“.

Und vielleicht ist auch ein Blick nach Europa nützlich. Auch auf EU-Ebene sind Elemente einer Konkordanzdemokratie erkennbar, ein Modell, das das politische System der Schweiz prägt – und das darauf abzielt, möglichst viele Akteure in die Herbeiführung eines Konsenses einzubeziehen. Man kann in diesem Zusammenhang auch über konsensdemokratische Möglichkeiten reden, wie sie unter anderem die Sozialpolitik Schwedens bestimmen.

Es gibt also gute, auch empirisch belastbare Gründe, eine solche Idee weiter zu verfolgen. Hindernisse bestehen aus politischem Unwillen, weniger aus operativer Unmöglichkeit. Benjamin-Immanuel Hoff, Chef der Thüringer Staatskanzlei unter Bodo Ramelow, hat schon ein paar Umrisse der institutionellen Formen skizziert, in die eine solche Minderheitsregierung eingebettet sein könnte: Es brauche nach innen einen Koalitionsvertrag der Minderheit, bei dessen Erarbeitung klar sein sollte, dass „eine zu perfekte und detaillierte Vereinbarung die Einbeziehung von Stimmen der Opposition ggf. nicht unerheblich erschweren würde“. Aber zugleich könne man gemeinsame Ziele und Vorhaben – in diesem Fall von Rot-Rot-Grün – „nicht allein einem Arbeitsprogramm der Landesregierung überlassen“. Nach außen müsste die „Basis der temporären Zusammenarbeit“ durch „ein eher offenes“ Zielpapier und „ein grundsätzlich zu verabredendes Fairness-Abkommen mit den beiden Oppositionsparteien CDU und FDP“ geschaffen werden.

Ausblick

Es gibt einen Nebeneffekt auf dem konsensdemokratischen Weg: Er könnte gegen die Unzufriedenheit helfen, die sich durch wiederholtes Nicht-repräsentiert-Sein einstellt. Ein Mike Mohring, der gern auf den Wählerwillen abstellt, könnte das bedenken. Und vielleicht tut er das ja schon: Vor ein paar Tagen verbreitete der CDU-Fraktionschef einen Text auf Twitter weiter, in dem der Satz steht, „es ist an der Zeit für Experimente, wenngleich nicht überall und nicht mit jedem“.

Es wird darin für eine Kooperation mit der Linkspartei plädiert, auch wenn dies „ein historisches Experiment“ wäre: „Aber immerhin das!“ Das ist nicht weit entfernt von Bodo Ramelow, der dieser Tage von einer Chance sprach, „eine bessere Balance zwischen einerseits dem Souverän, den Bürgerinnen und Bürgern, und andererseits den Verfassungsorganen, dem Landtag, der Landesregierung und dem Verfassungsgericht, zu ermöglichen“.

Es geht freilich nicht nur um Performance, um politische Kultur oder Kompromissverfahren. Es geht auch um Inhalte. Welche? Staatskanzlei-Chef Hoff hat die „Bewahrung und Aufrechterhaltung der in den vergangenen fünf Jahren erreichten Fortschritte“ schon einmal in den Zielkatalog notiert – also etwa das Bildungsfreistellungsgesetz, das Vergabegesetz, das Klimaschutzgesetz. Zudem steht dort ein „Primat öffentlicher Daseinsvorsorge“, da geht es unter anderem um den Rückkauf vormals privatisierter Wohnungsbestände und die Aktivierung stillgelegter Bahnstrecken. Außerdem solle es beim Ziel „gleichwertiger Lebensbedingungen in allen Landesteilen“ bleiben, wozu auch „die fortgesetzte Arbeit an der Überwindung“ prekärer und armutsschaffender Beschäftigungsverhältnisse gehört.

„Das mag sich nicht weltbewegend anhören“, so Hoff. Mindestens bundesrepublikbewegend wäre es freilich, wenn das in einem neuen Modus der Zusammenarbeit passiert: einer Kooperationsregierung. Mehr Demokratie wagen, diese Anleihe bei Willy Brandt hat Ramelow dieser Tage strapaziert. Und: „Jetzt ist die Stunde der Parlamentarier.“

Aber wäre, um das noch wenigstens zu fragen, nicht auch jetzt die Stunde des Souveräns? Eine linksgeführte Minderheitsregierung oder ein Bündnis der Linkspartei mit der CDU bekommen die meiste Zustimmung im Freistaat. Mit der Wahl hat man seine Stimme aber nicht abgegeben, man könnte sie auch weiter erheben. Nach der Landtagswahl von 2014 wurde gegen Ramelow demonstriert. Wer demonstriert 2019 für ihn?

„Wir haben ja oft ähnliche Ziele, aber unterschiedliche Antworten“, hat der Chef der Jungen Union in Erfurt dieser Tage in einem Gespräch mit dem Landessprecher der Thüringer Linksjugend gesagt. Der antwortete: „Ich fände es spannend zu sehen, was in solchen Gesprächen passieren könnte.“ Man darf derzeit immerhin darin sicher sein: Auch Mike Mohring hat das gelesen.

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