Schaurige Anschaulichkeit

Luxemburg Grusel-Rätsel, Kriminalgeschichte, falsches Gedenken: Die angebliche Entdeckung der „wahren“ Leiche von Rosa Luxemburg

An Aufforderungen, die „Geschichte umzuschreiben“, ist derzeit kein Mangel. Nach der Enthüllung der Stasi-Vergangenheit des Ohnesorg-Todesschützen Karl-Heinz Kurras, die mancherorts zur Neudeutung von „1968“ führt, dient jetzt der Fund einer Frauenleiche in der Berliner Charité als Anlass: Dort vermutet der Chef der Rechtsmedizin, Michael Tsokos, die sterblichen Überreste von Rosa Luxemburg gefunden zu haben. Eine „alte Wasserleiche ohne Kopf, Hände und Füße“ weise jedenfalls "verblüffende Ähnlichkeiten mit der realen Rosa Luxemburg" auf. Sollte sich sein Verdacht bestätigen, meint Tsokos, müsse die Geschichte umgeschrieben werden: „Dann haben in den letzten 90 Jahren Millionen von Menschen ein falsches Grab besucht.“

Haben sie das wirklich? Zunächst das, was man die neue Faktenlage nennen würde: Der Berliner Historiker Jörn Schütrumpf, der zusammen mit Tsokos und dem Spiegel-Redakteur Frank Thadeusz in dem Fall recherchierte, sieht „eine hohe Dichte von Indizien“, dass es sich bei dem Charité-Körper um Luxemburg handelt. Zwar gibt es bisher weder einen DNA-Abgleich noch einen anderen Beweis. Schütrumpf, der den Berliner Karl-Dietz-Verlag führt und als Luxemburg-Kenner hervorgetreten ist, sieht es inzwischen aber als erwiesen an, dass im Juni 1919 in der heutigen Gedenkstätte der Sozialisten „nicht die richtige Leiche bestattet wurde“.

Kontroverse unter Experten

Ein Vergleich ist nicht mehr möglich. Die Gräber in Berlin Friedrichsfelde wurden bei einer Öffnung 1950 leer vorgefunden – die Nazis hatten die Anlage 1935 zerstört und geschändet. Aber Tsokos ist sich wegen der Ungereimtheiten im Obduktionsprotokoll dennoch sicher, dass die damals für Rosa Luxemburg ausgegebene Leiche eine andere Tote war. Die damaligen Rechtsmediziner Fritz Strassmann und Paul Fraenckel seien damals vom Militär offenbar zu einer politisch opportunen Identifizierung gezwungen worden, meint Schütrumpf. In einem Untersuchungsbericht, der im Militärarchiv in Freiburg lagerte, soll sich zum Beispiel kein Hinweise auf den Kopfschuss finden, mit dem Luxemburg von einem Reichswehr-Schergen ermordet worden war. Dass die enge Vertraute und Sekretärin der KPD-Mitgründerin, die Übersetzerin Mathilde Jacob, Luxemburg 1919 anhand von Handschuhen und einem Medaillon erkannt haben soll, hält Tsokos „für sehr unwahrscheinlich“.

Es gibt, auch das sollte erwähnt sein, Experten, die der These von Tsokos und Schütrumpf skeptisch gegenüberstehen. Rainer Rilling von der Rosa-Luxemburg-Stiftung spricht im Zusammenhang mit der Berichterstattung über die angeblich falsche Leiche von „faktenresistenten grotesken Fabeln“. Und auch Klaus Gietinger, der mehrere Bücher über die Ermordung der Sozialistin veröffentlicht hat, nennt den Verdacht „sehr zweifelhaft“. Die in der Charité gefundene Frau sei „zu 90 Prozent nicht die Leiche von Rosa Luxemburg“, sagte er der Süddeutschen Zeitung.

Die auf den restlichen zehn Prozent basierenden Mutmaßungen, von mehr kann man bislang wohl nicht sprechen, haben den erwarteten Wirbel in den Medien ausgelöst. Das ist kein Vorwurf. Nur geht das Interesse der veröffentlichten Meinung weit über historiografische Motive hinaus. Es ist der Kitzel eines prominenten Politkrimis und die schaurige Anschaulichkeit der vermeintlichen Belege – „abgerissene Gliedmaßen“, „Drahtschlingen“, „Beinlängendifferenz“ –, die hier für Aufmerksamkeit sorgen, ein „Grusel-Rätsel“ (BZ) eben. Abgesehen von der politischen Dimension. Wo die Frankfurter Allgemeine in ihrer Überschrift von der „Leiche im Keller“ spricht, soll sich der Gedanke an das Unaufgearbeitete, das bisher übersehene Falsche, ja Böse aufdrängen. Und die Welt nutzt die Gelegenheit, noch einmal zu erklären, „wieso Liebknecht und Luxemburg nicht als Leitbilder taugen“. Es ist dies der ideologische Zwilling zu Tsokos’ kriminalistischem Urteil, in den vergangenen 90 Jahren hätten in jedem Januar „Millionen von Menschen ein falsches Grab besucht“.

Aber wäre denn, gesetzt den Fall, Tsokos und Schütrumpf hätten recht, das jährliche Ritual in Berlin-Friedrichsfelde deshalb wirklich obsolet? Man mag das Vorbeiziehen an den Gräbern von Luxemburg und anderen als überkommene Form der Traditionspflege und als Relikt betrachten, ja belächeln. Doch die Ehrung hat für Tausende einen Symbolgehalt, der über bloßes Staats- oder Parteigedenken hinausgeht. Und vor allem: die unabhängig ist vom Inhalt der Grabanlagen.

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Geschrieben von

Tom Strohschneider

vom "Blauen" zum "Roten" geworden

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