Die Historisierung wählt sich manchmal einen schnellen Gaul. Noch ist gar nicht klar, wie es mit dem umstrittenen Bahnhofsneubau weitergeht – da kommen die Insignien des Kampfes um den Schlossplatz schon ins Museum. Der Bauzaun, an den die Gegner von Stuttgart 21 tausende Plakate hefteten, den sie mit Transparenten behängten und mit Protestobjekten verzierten, dieser Bauzaun wird am Mitte Dezember im Haus der Geschichte Baden-Württemberg ausgestellt: als Zeugnis demokratischer Streitkultur.
Mit eben jener hat nun auch wieder eine Landesregierung zu tun, die der Konflikt um den Bahnhof erst ins Amt trug. Die SPD hat sich mit der CDU getroffen, und eine gemeinsame Kampagne für Stuttgart 21 vor der Volksabstimmung Ende November vereinbart. Die Grünen meinen, das dürfe nicht sein, und haben ihren Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann „ein Machtwort“ sprechen lassen, wie es jetzt heißt.
Dass mit der Wahl von Grün-Rot das Stuttgarter Problem nicht aus der Welt ist, war den Beteiligten von Anbeginn klar. Die Koalition der in der Bahnhofsfrage so ungleichen Partner hat auch deshalb versprochen, „eine neue politische Kultur des Dialogs“ zu ermöglichen. Man wollte, das war zumindest die Botschaft, die demokratiepolitische Melange, die in Wutbürgertum und Schlichtungsverfahren zum Ausdruck kam, sich entwickeln lassen. Der Koalitionsvertrag, so haben es Grüne und SPD unterschrieben, „ist nicht der Abschluss, er ist der Beginn eines echten Wechsels“.
Sie nahmen es als Versprechen
Die Grünen scheinen nun mit eben diesem Selbstanspruch in Konflikt zu geraten. Entscheidungen, so lautete eine Lehre aus den Stuttgarter Protesten, sollten aus der Zwangsjacke parteipolitischer Selbstläufe befreit und wieder einer sachlichen Vernunft unterworfen, durch das bessere Argument entscheiden werden. Politik, so hieß es auch, brauche mehr Legitimation als mit alle paar Jahre abgehalten Wahlen möglich ist. Das Wort von der „Bürgerregierung“ wurde in die Welt gesetzt – und wer sich nicht fragte, was denn dann eigentlich die anderen Regierungen waren, der nahm es als Versprechen: Die Leute sollen mitentscheiden.
Die Volksabstimmung über den Bahnhof, die der baden-württembergische Landtag am Freitag auf den Weg bringt, war das wichtigste Beispiel dafür und eben mehr als nur ein Kompromiss der Regierungspartner, mit dem ein auf Koalitionsebene unlösbarer Dissens ausgelagert werden konnte. Man mag es in einer Koalition ärgerlich finden, wenn ein Partner sich mit der Opposition trifft und mit Blick die Volksabstimmung ein Bündnis der Bahnhofsbefürworter schmiedet. Wer aber die Rede vom Primat der Sachfrage und der neuen Demokratiekultur ernst nimmt, muss das aushalten. Mehr noch: Der wird es brauchen.
Die „klare Grenze“, von der Kretschmann jetzt spricht, gibt es nicht. Weder auf den Koalitionsvertrag noch irgendeine wirklich gute Tradition kann sich der Grüne berufen. Und dass in dem „Wahlkampf“, der jetzt beginnt, die Bahnhofsparteien SPD und CDU ihre Rolle spielen, ist ebenso verständlich wie es eine Kooperation der Grünen mit den außerparlamentarischen Kritikern von Stuttgart 21 wäre. Auf deren Stärke wird es letztlich wieder ankommen – nicht auf „Machtworte“.
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