Schwaches Trommeln

Datenschutz Da hilft die beste Boykott-Tradition nichts: Die Kritiker des Zensus' haben es diesmal schwer, mit ihren Argumenten gegen die Volkszählung gehört zu werden. Leider

Seit 1962 darf sich Koblenz Großstadt nennen – 106.744 Menschen leben hier offiziell, das liegt knapp über der international gültigen Hunderttausender-Schwelle. Ab Montag wird auch am Deutschen Eck neu gezählt. Dann zeigt sich, ob die Stadt weiter in der kommunalen Oberliga spielen darf. Der Zensus 2011, sagen schon jetzt die Statistiker voraus, werde vielerorts die Einwohnerzahlen nach unten korrigieren.

Die rund 100 meist jungen Menschen, die am vergangenen Samstag vom Koblenzer Hauptbahnhof zum Löhr-Rondell und zurück demonstrierten, hatten andere Sorgen. Der kleine Protestmarsch richtete sich gegen die statistische Mega-Inventur an sich. Der Staat, kritisiert Matthias Ebbertz von den Grünen, gelange durch die Volkszählung an private Daten. Rund 80.000 Volkszähler schwärmen kommende Woche aus, um acht Millionen zufällig ausgewählte Bürger nach Alter, Staatsangehörigkeit und Migrationshintergrund zu befragen. Und niemand, sagt Ebbertz, habe die Möglichkeit, seine Auskunft zu verweigern.

„Nicht mit uns“, hieß es trotzdem auf der Koblenzer Demo – und auch bundesweit sieht knapp jeder Sechste den Zensus kritisch. Von den 17 Prozent, die sich einer Umfrage zufolge, so weit es geht, der Befragung widersetzen wollen, ist aber kaum etwas zu sehen – anders als in den achtziger Jahren, als im Westen eine eindrucksvolle Kampagne gegen die Volkszählung lief. „Wir als kleiner Arbeitskreis haben es nicht geschafft“, sagt Michael Ebeling vom AK Zensus, dem Bündnis der Volkszählungsgegner, „rechtzeitig dafür zu trommeln – oder wir wurden nicht gehört.“

Spenden gegen 5,5 Millionen

Obwohl Datenschutz schon wegen der häufigen Skandale in der öffentlichen Debatte einen breiten Raum einnimmt, haben es die Volkszählungsgegner schwer. Die Liste der Mitglieder im AK Zensus ist überschaubar, das Für und Wider der Bestandsaufnahme hat nur geringe politische Erschütterungen ausgelöst, gegen die 5,5 Millionen Euro teure Werbekampagne des Bundes scheinen die Kritiker chancenlos. Die 60.000 Flugblätter, die der AK Zensus beim Aktionstag am Sonntag verteilen will, werden aus Spenden bezahlt. Die meisten Menschen, sagt Datenschützer Werner Hülsmann von den „Informatikern für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung“, wüssten gar nicht, was auf sie zukommt.

Der Chef der von der Regierung eingesetzten Zensuskommission, Gert G. Wagner, hält die Kritik für überzogen: „Die Firewall ist extrem hoch.“ Zudem werde, da nicht jeder befragt wird und viele Informationen aus bereits vorliegenden Datenbeständen stammen, die Bevölkerung „deutlich weniger belastet“, heißt es beim Statistischen Bundesamt. Selbst der Grünen-Politiker Wolfgang Wieland, noch in den achtziger Jahren an vorderster Front gegen den Zensus, hält die aktuelle Inventur für eine „Volkszählung light“ – und mithin für „keine Katastrophe“.

Das sehen die Kritiker ganz anders. Der Zensus bringe „eine Datensammlung unermesslichen Ausmaßes“ hervor, warnt Hülsmann: Rund 82 Millionen personenbezogene Datensätze werden erstellt, Informationen aus Melderegistern und der Bundesagentur für Arbeit fließen darin ein. Auch bei den Aktivisten des Chaos Computer Clubs löst dies größte Befürchtungen aus. Möglicher Missbrauch, Zweckentfremdung durch Behörden – die Bedenken sind nicht aus der Luft gegriffen. Tausende Volkszähler werden etwa die ausgefüllten Fragebögen tagelang in ihren Privatwohnungen aufbewahren. Und hat der Staat die Daten erst einmal, werden diese womöglich erst in einigen Jahren anonymisiert.

Heikle Stellen

Dass Deutschland von der EU zur Volkszählung verpflichtet wurde, erkennt der schleswig-holsteinische Datenschutzbeauftragte Thilo Weichert durchaus an. Für sinnvoll hält er das Projekt deshalb aber noch lange nicht – geschweige denn für ungefährlich. Auch Kollegen aus anderen Ländern haben sich kritisch zum Zensus geäußert. Ein paar Änderungen gegenüber den ursprünglichen Plänen sind vor der Verabschiedung des Zensusgesetzes erreicht worden. An heiklen Stellen blieben aber selbst Forderungen des Bundesdatenschutzbeauftragten ungehört.

„Bedauerlicherweise“, sagt Peter Schaar, sei man ihm in mehreren Punkten nicht gefolgt. So werden zum Beispiel nun die „sensiblen Sonderbereiche“ vollständig erfasst – also die Bewohner von Vollzugsanstalten, psychiatrischen Heimen und Frauenhäusern. Gefragt wird auch nach Religionszugehörigkeit und Weltanschauung – die Antwort ist zwar teilweise freiwillig, geht aber über die EU-Anforderungen an den Zensus hinaus. Problematisch ist zudem, dass Menschen mit einer Auskunftssperre nicht aus der Stichprobe genommen werden – wer in einem Zeugenschutzprogramm steht oder Nazi-Aussteiger ist, kann also durchaus Besuch vom Volkszähler bekommen.

Für die Interviewer gelten zwar Rekrutierungsregeln. Doch zweifelsfrei garantieren können die Behörden kaum, dass zum Beispiel auch NPD-Anhänger darunter sind. Die Partei hatte dazu aufgerufen, die Volkszählung zum „Grundstein für eine nationaldemokratische Marktforschung“ zu machen. Kritiker wie Michael Ebeling warnen deshalb vor einem „Restrisiko“. Den Sinn einer aktuellen Datengrundlage für politische Entscheidungen und öffentliche Planungen stellt der Mann vom AK Zensus gar nicht in Abrede. Aber: „Man könnte aber auch viel einfacher herausfinden, wie viele Menschen in Deutschland wohnen.“

Neue Wahlkreise erst 2017

Von den Zahlen hängt einiges ab – nicht nur der Koblenzer Großstadt-Status. Auch die Zensus-Begeisterung der Bundesländer war anfangs eher gering. Trotz Zugeständnissen des Bundes müssen sie nicht nur einen Großteil der 710 Millionen Euro teuren Erfassung bezahlen. Sie könnten je nach Ergebnis noch weiteres Geld verlieren. Denn wie viele Milliarden Euro die Länder und Kommunen aus dem Finanzausgleich bekommen, hängt von der Einwohnerzahl ab. Es könnte zu beträchtlichen Verschiebungen kommen – wie im Jahr nach der Volkszählung von 1987, als Finanzströme von insgesamt einer Milliarde Euro umgelenkt wurden.

Spuren könnte der Zensus auch auf der politischen Karte hinterlassen. So hängt von der Einwohnerzahl eines Bundeslandes ab, wie viele Sitze es in der Länderkammer beanspruchen kann. Vor allem in Hessen gibt es Grund zum Zittern: Sollte sich ergeben, dass dort 61.000 Menschen weniger leben als bisher bekannt, würde das Land einen seiner fünf Sitze im Bundesrat verlieren. Nicht zuletzt kommt wohl auch der Zuschnitt der bundesweit 299 Wahlkreise auf den Prüfstand. Im Durchschnitt sollen in jedem davon 251.000 Wahlberechtigte wohnen. Weicht die Bevölkerungszahl um mehr als 25 Prozent davon ab, muss neu zugeschnitten werden.

Ein solcher Schritt bringt Gewinner und Verlierer hervor – einige Bundesländer haben jedoch vergeblich dafür plädiert, die Zensus-Ergebnisse schon bei der Bundestagswahl 2013 zu berücksichtigen. Die zuständige Kommission will die Wahlkreise, wenn nötig, erst vor dem darauf folgenden Urnengang 2017 neu einteilen.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Tom Strohschneider

vom "Blauen" zum "Roten" geworden

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