Sechsstellig gegen die Krise

DGB Die Gewerkschaften suchen auf ihrem Kapitalismuskongress nach einem dritten Weg. Der führt den DGB am Samstag erst einmal auf die Straßen der Hauptstadt

Über einhunderttausend Menschen haben in Berlin gegen die Folgen der Wirtschaftskrise und für einen Politikwechsel demonstriert. Die Veranstaltung, zu der der Deutsche Gewerkschaftsbund aufgerufen hat, war Teil eines europaweiten Aktionstages.

Wenn Michael Sommer von „grundlegenden Veränderungen im System“ spricht, dann wird mancher vielleicht an die „sozialen Unruhen“ denken, mit denen der DGB-Vorsitzende vor einigen Tagen so viele Schlagzeilen machte. Der Dachverband will angesichts der schwersten Krise seit Jahrzehnten aber eher „gegenlenken“ – was man so verstehen kann, dass es darum geht, wieder in die Spur zurückzukehren. Bei Sommer führt der „dritte Weg“ in eine „politisch kontrollierte und sozial verpflichtete Marktwirtschaft“.

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Wie diese „Alternative zum Neoliberalismus“ aussehen soll, darüber haben seit Donnerstag auf dem Kapitalismuskongress des DGB weit über 500 Gewerkschafter und Wissenschaftler diskutiert. Wenn das Medienecho bisweilen den Eindruck hinterließ, hier fänden vor allem Leute gegenseitige Bestätigung, die von der Krise schon sprachen, als es andere noch nicht taten, ist das nicht nur Stimmungsmache. Sony Kapoor, der einmal Investmentbanker bei der berühmt-berüchtigten Pleitebank Lehman Brothers war und heute mit seinem Think Tank den Kritikern des „Marktradikalismus“ zuarbeitet, formulierte es auf der Konferenz als freundschaftlichen Rat: Wogegen sich die im Radialsystem an der Spree Versammelten wenden, sei inzwischen hinlänglich bekannt – aber wofür man sei, das liege noch weitgehend im Dunkeln.

Der DGB würde das so wohl nicht sagen. Zu seinem Kongress „Umdenken – Gegenlenken“ hat der Bundesvorstand Thesen vorgelegt, in denen von kurzfristigen Konjunkturmaßnahmen ebenso die Rede ist wie von einem Einstieg in neue Produktionsmethoden. Michael Sommer spricht von der Rückeroberung eines Primats des Politischen über die Wirtschaft, von ausgeweiteter Mitbestimmung und Demokratie in den Betrieben. Aber auch davon, dass sich die Gewerkschaften „nicht nur analytisch mit der Krise auseinandersetzen“ könnten, „sondern auch praktisch gefordert“ seien.

Als die Vorbereitung zum DGB-Kongress noch lief, hatte das globalisierungskritische Netzwerk Attac seine Kapitalismuskonferenz schon hinter sich. Aus den Gewerkschaften konnte man eine gewisse Enttäuschung darüber vernehmen, dass nun auch noch der Dachverband zu einer Veranstaltung einlade, bei der Experten von Podien aus die Welt einschätzten. Nicht, dass es ein Überangebot an kritischer Analyse geben würde. Im DGB-Mittelbau hätten sich einige aber gewünscht, lieber mit den Kollegen vor Ort ins Gespräch zu kommen, mit Betriebsräten und Vertrauensleuten, mit Beschäftigten und Erwerbslosen.

Dazu besteht nun am Samstag die Gelegenheit, wenn der DGB im Rahmen eines europaweiten Aktionstages zur Demonstration nach Berlin ruft. Auch hierbei kann von einer Vorreiterrolle der Gewerkschaftsführungen nicht unbedingt die Rede sein. Als am 28. März in Frankfurt und Berlin Tausende auf die Straße gingen, hatten die Spitzen der DGB-Organisationen eine offizielle Unterstützung versagt. Dem Verdi-Chef Frank Bsirske oder Annelie Buntenbach vom DGB konnte man dennoch auf den Demonstrationen begegnen. Die Sozialexpertin wollte im Freitag-Interview zudem keine Konkurrenz zwischen beiden Terminen aufmachen und hofft, „dass diejenigen, die den DGB gern schon früher auf der Straße gesehen hätten, am 16. Mai mit uns Flagge zeigen“.

Bereits Flagge gezeigt haben am Donnerstag Zehntausende in der spanischen Hauptstadt Madrid, wo die Aktionstage des kontinentalen Gewerkschaftsbundes EGB ihren Anfang nahmen. Demonstrationen „für ein soziales Europa“ fanden ebenso in Luxemburg, Bukarest und Birmingham statt. Für Freitag waren zu Protesten in Brüssel Zehntausende erwartet worden. Am Samstag wird zudem in Prag demonstriert. Mit wie vielen Menschen der DGB rechnet, dazu gab es offiziell keine Prognosen. Intern allerdings wird darauf gehofft, dass die Teilnehmerzahlen in Berlin den sechsstelligen Bereich erreichen. Ein Zeichen für „soziale Unruhe“ wäre das dann aber schon – ein gutes zumal.

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Geschrieben von

Tom Strohschneider

vom "Blauen" zum "Roten" geworden

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