Der Berliner Zeitung war es eine besondere Erwähnung Wert, dass „sogar die Linke“ sich in den Chor der Befürworter einreiht: Von der FDP bis zu den Grünen haben Politiker auf die Erforschung des Stasi-Einflusses auf den Bundestag seit 1949 gedrängt. Die Frage ist so historiografisch spannend wie politisch heikel. Nicht etwa, weil noch Zweifel am Versuch der DDR-Oberen bestehen würden, sich mit geheimdienstlichen Mitteln über parlamentarische Interna der Bundesrepublik zu informieren, wenn nicht sogar die Politik im eigenen Sinne zu beeinflussen. Sondern weil der Schatten des IM-Verdachts dabei auf namhafte Parteivertreter aus dem Westen fallen könnte.
Die Angelegenheit hat ihren Vorlauf: Seit Jahren taucht das Thema immer mal wieder in der Öffentlichkeit auf, zuletzt sorgte die Erforschung von Akten der Auslandsspionage und der so genannten Rosenholz-Dateien in den Jahren 2006 und Jahr 2007 für Schlagzeilen. Die Äußerung des einstigen HVA-Chefs Markus Wolf im Ohr, der einmal erklärt hatte, die DDR-Staatssicherheit sei im Bundestag „in Fraktionsstärke“ vertreten gewesen, war die Neugier groß. Eine Arbeitsgruppe der Birthler-Behörde erlaubte einen Blick in die Vergangenheit: In der sechsten Legislaturperiode von 1969 bis 1972, hieß es zunächst, sollen 43 Parlamentarier als Inoffizielle Mitarbeiter registriert worden sein. Später stellte sich heraus, dass allenfalls drei „willentlich und wissentlich“ für das Mielke-Ministerium gearbeitet hatten, also im heutigen Sinne "Täter" waren. Der Rest war ins Visier der DDR-Sicherheitsbürokratie geraten – allerdings als "Opfer".
Die Debatte näherte sich einer heute oft vernachlässigten Kernfrage: Wie viel Wahrheit steckt eigentlich in den Stasi-Akten? Die FDP war 2007 mit ihrem Vorstoß, den Einfluss des MfS auf den Bundestag umfangreich zu erforschen, genau daran gescheitert. Der damalige Parlamentsgeschäftsführer der Union, Norbert Röttgen, hatte seinerzeit in einem Brief an den Berliner Gedenkstättenleiter Hubertus Knabe erklärt, man habe „erhebliche Zweifel, ob es gelingen wird, in der Öffentlichkeit klar zwischen Tätern und Opfern des DDR-Systems zu unterscheiden“ und auf eine „Schutzpflicht des Parlaments gegenüber seinen (früheren) Mitgliedern“ verwiesen. Die SPD vertrat die selbe Auffassung.
In Zeiten, in denen die schwarz-gelbe Koalition die Stasi-Regelüberprüfung im öffentlichen Dienst weiter verlängern und sogar wieder ausweiten will, kommt dem Argument erst recht Bedeutung zu. Ist denn die aktenbasierte Unterscheidung zwischen Tätern und Opfern nur bei westdeutschen Politikern so schwer, oder betrifft das nicht auch die Zusammenarbeit ostdeutscher Normalbürger mit dem Mielke-Ministerium? Haben die Archivalien, die ostdeutsche IM betreffen, einen anderen Wahrheitswert, müssen sie anders interpretiert werden? Besteht nicht die „Schutzpflicht“ des Parlaments auch gegenüber jenen, die sonst nicht selten vorschnell und unverhältnismäßig an den Pranger einer geschichtspolitisch denkfaulen Öffentlichkeit gestellt werden?
Gleichbehandlung von Ost und West
Wohl gemerkt: Es geht nicht darum, Spitzeldienste, Opportunismus und dergleichen nachträglich zu rechtfertigen. Sondern darum, in der Aufarbeitung des großen Ganzen dem Einzelfall im kleinen Konkreten gerecht zu werden. Der sächsische Landesbeauftragte für die Stasiunterlagen, Michael Beleites, hat einmal auf die dabei bestehenden Probleme hingewiesen. Man könne, sagte er, die IM von der Verantwortung für die Folgen ihres Tuns nicht freisprechen. „Aber dennoch waren sie in gewisser Weise auch Opfer eines politischen Missbrauchs“, so Beleites, der selbst massiv bespitzelt worden war. Er erinnerte unter anderem an die Rolle von Führungsoffizieren, an die nicht selten erpresserischen Umstände, unter denen Kooperationen mit dem MfS begannen, und an die Asymmetrie zwischen Hauptamtlichen und Informellen.
Der Sozialdemokrat Wolfgang Thierse wies jetzt im Zusammenhang mit der Forderung nach der Stasi-Studie über den Bundestag darauf hin, ein entsprechender Forschungsauftrag könne auch im Interesse der Gleichbehandlung von ehemaligen Bürgern der Bundesrepublik und der DDR bei der Geschichtsaufarbeitung sein. Der Grüne Parlamentsgeschäftsführer Volker Beck meint, eine solche Expertise könne auch zeigen, wie glaubwürdig die bei der Stasi geführten Akten überhaupt seien.
So betrachtet steckt in dem Vorhaben eine Potenz, die über das konkrete Thema hinausgeht. Es würde einer Diskussion den Weg öffnen, die einen wichtigen Impuls zur „Aufarbeitung der Aufarbeitung“ geben würde. Denn die bisherige Fixierung auf die schriftliche Hinterlassenschaft des Mielke-Ministeriums; auch die Art und Weise, in der IM-Vorwürfe gerade auf dem politischen Parkett pauschalisiert und instrumentalisiert wurden; die mediale Logik von Verdacht und Enthüllung bei gleichzeitig mangelnder Quellenkritik; und schließlich der Ewigkeitsanspruch des IM-Vorwurfs, der auch 20 Jahre danach weder die Möglichkeit der Sühne noch der Selbsterkenntnis und schon gar nicht Verjährung kennt – all das läuft dem ursprünglichen Ziel der Aufarbeitung anhand von Akten entgegen.
Es war der CSU-Innenstaatssekretär Eduard Lintner, der 1991 in der Bundestagsdebatte über das Stasi-Unterlagen-Gesetz erklärte, „niemand wird auf die Idee kommen, dass diese Schnüffelakten immer nur die Wahrheit enthalten“, Spitzel und Zuträger seien „vielfach selbst nur durch Drohung und Erpressung zu diesen Spitzeldiensten genötigt worden“ - und auch „diejenigen, die individuelle Schuld auf sich geladen haben, dürfen nicht auf Dauer ausgegrenzt werden“. Jeder, so Lintner damals, „muss die Chance erhalten, dazuzulernen“.
Das gilt auch für die Aufarbeitung selbst. 20 Jahre nach der Wiedervereinigung bedarf es einer selbstkritischen Bilanz des politischen Umgangs mit den Stasi-Akten. Die doppelte Debatte über die Erforschung der MfS-Einflussnahme auf den Bundestag und über die Verlängerung der Regelanfrage für Ostdeutsche ist dazu die beste Gelegenheit.
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