Tiefensee macht Tempo

Osten Der Verkehrsminister lässt die "neuen" Länder schneller aufholen, als die Zeit erlaubt. Sein Bericht zum Stand der Einheit ist Wahlkampf und Imagepflege zugleich

Manchmal ist eine Krisennachricht fast schon eine Erfolgsmeldung. Die Rezession, so steht es im diesjährigen Regierungsbericht zum Stand der deutschen Einheit, sei "mittlerweile auch in Ostdeutschland deutlich spürbar". Zwanzig Jahre nach der Wende, das ist die heimliche Botschaft, gibt es in den "neuen" Ländern wieder Wirtschaftsstrukturen, deren Existenz ja überhaupt erst die Voraussetzung ist, damit etwas in die Krise rutschen kann.

Das war nach 1990 nicht immer so. Helmut Kohls Wort von den "blühenden Landschaften" wäre sonst nicht so legendär – nur als dauerhafter Kontrast zur real weiterexistierenden Ungleichheit zwischen Ost und West konnte es die Wendezeit überleben. Nun also, behauptet der zuständige Verkehrsminister, sei man zwischen Ahrenshoop und Zittau "auf dem besten Wege, sich dem Westen anzunähern". Und damit keine Zweifel aufkommen, macht Wolfgang Tiefensee hinter den Satz "die Schere schließt sich" auch ein Ausrufungszeichen.

Entgegenschrumpfung West

Dass sich ausgerechnet in der schwersten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten die lang erwartete Aufholjagd des Ostens beschleunigen soll, könnte damit zu tun haben, dass der Westen weit stärker von der Rezession getroffen wird. Schon im Frühjahr hatte das Kölner Institut der deutschen Wirtschaft eine Studie vorgelegt, die den Schluss nahe legte, der Aufbau Ost könnte von einem Entgegenschrumpfen West profitieren. Nimmt man für bare Münze, was an Erfolgsmeldungen aus dem SPD-geführten Ministerium kommen, vielmehr: was an den vorliegenden Zahlen als Erfolg interpretiert wird, dann stellt sich dennoch die Frage, warum dieser gerade jetzt verkündet wird.

Normalerweise wird der Einheitsbericht im Herbst vorgestellt, in den vergangenen Jahren meist an Terminen Ende September, also in jener Zeit, zu der im kommenden Herbst die Bundestagswahl stattfindet. Die Vorverlegung in den Juni ist offenbar erfolgt, damit der Entwicklungsstand des Sorgenkindes nicht mehr als nötig in die Endphase des Wahlkampfes gerät. Oder schlimmer noch, die Geschwindigkeit, mit der die Ostdeutschen nun angeblich gegenüber ihren "Brüdern und Schwestern" aufholen, erst nach der Bundestagswahl bekannt wird. Dann interessiert sich womöglich gar niemand mehr für die vielen bunten Grafiken.

Bilanz als "Ost-Beauftragter"

Vielleicht hat Tiefensee aber auch an seine Bilanz als "Ost-Beauftragter" und sein Renommee in der Bundesregierung gedacht. Anfang des Jahres forderte Sachsen-Anhalts CDU-Ministerpräsident Wolfgang Böhmer, auf den Ost-Beauftragten nach den Wahlen im Herbst ganz zu verzichten. Der Job sei ohnehin ein Auslaufmodell, hieß es zur Begründung. Nicht gerade ein Vertrauensbeweis für den Amtsinhaber. Dann schlug Sachsens CDU-Ministerpräsident Stanislaw Tillich vor, in der kommenden Legislatur den "Ost-Beauftragten" beim Kanzleramt anzusiedeln. Die Koordinierungsleistungen von Tiefensee und seinem Vorgänger Manfred Stolpe wurden in einem Strategiepapier der Union unverhohlen als gescheiterte "Versuche" bezeichnet. Das wurde in der Öffentlichkeit so verstanden, wie es gemeint war: als Parteiengezänk, denn der Osten gilt als wahlentscheidend.

Nun also wahlkämpft Tiefensee zurück. Mit Erfolgsmeldungen, über die sich wundern muss, wer ein gutes Gedächtnis hat. Im September 2007 sagte der SPD-Minister voraus, der wirtschaftliche Aufholprozess der "neuen" Länder werde wohl noch 20 Jahre dauern. Im Juni 2009 wird nahegelegt, es dauere nur noch zehn Jahre, bis Ostdeutschland wirtschaftlich Anschluss an den Westen finde – jedenfalls an das Niveau strukturschwacher Regionen. Wo sind die acht Jahre geblieben? Die neue Ziellinie ist jedenfalls ebenso willkürlich wie absichtsvoll gezogen: 2019 läuft der Solidarpakt II aus. Mit einer Verlängerung ist nicht zu rechnen.

Ob Tiefensees Beschleunigung der angeblichen Aufbauerfolge als Leistungsnachweis reicht, damit der derzeitige Verkehrsminister auch in der nächsten Großen Koalition noch einmal Berücksichtigung findet? Und die SPD weiterhin den "Ost-Beauftragten" stellen darf? Oder bekommt doch die CDU das Türschild, dann in Angela Merkels Kanzleramt?

So oder so: Grund zur Annahme, die Angleichung der Lebensverhältnisse und des Lohnniveaus würde in Zukunft rascher vorangehen, besteht nur wenig. Und die Krise könnte dafür sorgen, dass neben dem Osten immer neue Regionen zu Zonen des wirtschaftlichen und sozialen Rückstand werden – im Westen.

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Geschrieben von

Tom Strohschneider

vom "Blauen" zum "Roten" geworden

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