Man konnte allerlei Interessantes über die Volte in der SPD lesen. Wer wann die „erste Attacke“ ritt, wo welche Spitzengenossen die Neuaufstellung der Parteiführung verabredeten und wie turbulent die Fraktionssitzung ablief. Über die Frage, in welche Richtung die Sozialdemokraten in Zukunft laufen werden, hat man wenig erfahren. Weil es bisher im Prinzip keine Rolle spielte.
Selbst die hier und da aufscheinende Abwendung von Agenda-Politik und Linkspartei-Tabu war mehr Kostümierung als Kritik. Die machiavellistische Grundierung der Rochade hat Ämterfragen vor politische Überlegungen. Frank-Walter Steinmeier hat mit seinem schnellen Griff nach dem Fraktionsvorsitz noch am Wahlabend die Neuaufstellung der Sozialdemokratie gegen das so dringend nö
nd nötige Nachdenken imprägniert. Es blieb den anderen: reagieren, nachziehen, verhindern. Da spielten die Agenda 2010 und die Rentenpolitik erst einmal keine Rolle. Statt sich über Inhalte selbst zu befragen, mussten personelle Antworten gefunden werden. Dabei hätte es doch umgekehrt sein müssen! Die Forderung nach einem raschen Personalwechsel hat sich letztlich gegen die dahinter stehende Intention gewandt: Neuanfang?Wofür steht Gabriel?Man darf davon ausgehen, dass sich wichtige SPD-Politiker auf den Tag danach vorbereitet hatten. Vielleicht war anderes geplant als eine überstürzte Lösung – nur kam es dann eben so. Politik schlägt Haken, wenn die Bedingungen sich ändern. Im Endeffekt ist wohl ein Durchmarsch Steinmeiers verhindert worden, auf den im Vorfeld schon hingeschrieben worden war: die neue Lust des Kanzlerkandidaten an der Parteipolitik, sein strategisches Potenzial, der Blick über den Tag der sicheren Wahlniederlage hinaus. Der linke Flügel spielte beim Pressing gegen das Duo Steinmeier-Müntefering eine wichtige Rolle. Die eher rechten Strömungen hatten ihre Gründe, sich daran zu beteiligen.Am Ende steht ein schwacher Steinmeier der Fraktion vor, seine Amtszeit ist vom Spiegel als „Restlaufzeit“ beschrieben worden. Der neue „starke Mann“ wird Sigmar Gabriel sein, aber in den Zeitungsüberschriften, die von seiner Zukunft als Parteivorsitzender künden, schwingt Ratlosigkeit mit: Warum er, wofür steht Gabriel? Andrea Nahles wird das Amt des Generalsekretärs aufwerten und mit politischem Gestaltungsanspruch auffüllen. Für die Führungsriege gelten außerdem Scholz und Wowereit als gesetzt, wohl auch Hannelore Kraft aus Nordrhein-Westfalen. Was ist damit gewonnen? Man kann es nicht sagen.Entfremdung zwischen Spitze und BasisDie Basis hatte bisher kaum die Chance, sich einzumischen. Und es wird in den kommenden Wochen auch nicht einfacher, die Politik über die Flügellogik zu stellen. Immer wieder war in den vergangenen Tagen aus der SPD heraus die „Entfremdung zwischen Parteiführung und Mitgliedschaft“ als eine der dringendsten Probleme genannt worden. Die Volte der vergangenen Tage blieb auf genau dieser Linie: Kuhhandel hinter verschlossenen Türen, Bekanntgabe der Ergebnisse an die Basis via Medien.Die Parteispitze, beklagt die Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokraten in der SPD, setze ihren „Kurs der Selbstversorgung und Absprachen in kleinen Zirkel fort“. Der Kreis, der sich im Frühsommer angesichts der Parteikrise etabliert und Unterstützung bei namhaften Linken und früheren Amtsträgern gefunden hatte, setzt jetzt auf ein Mitgliederbegehren. Damit solle „das Durchwählen beim Bundesparteitag“ im November verhindert werden.Die Resolution des erweiterten Berliner SPD-Landesverbandes, die am Montag für Schlagzeilen sorgte, zielte nicht nur auf Personalfragen. Nicht den Weg in die Medien fand jedoch die darin enthaltene Forderung nach einer „längeren Perspektivendiskussion“ und der Vorschlag, im Herbst 2010 einen Sonderparteitag einzuberufen, auf dem der Kurs der Sozialdemokratie neu bestimmt werden soll.Schuss nach hintenBereits jetzt kursiert ein Aufruf unter der Überschrift „SPD erneuern“, den die Jusos mit der Aufforderung verbunden haben, ihn als Initiativantrag an den Novemberparteitag in den Parteigliederungen zu beschließen. Das Plädoyer für einen „radikalen Erneuerungsprozess“ schließt die klare Distanzierung von der sozialdemokratischen Regierungspolitik mit ein, bleibt aber sonst unkonkret, was auch der Dynamik der gegenwärtigen Entwicklung innerhalb der SPD geschuldet sein mag. Die Forderung zum Beispiel, Partei- und Fraktionsvorsitz nicht in eine Hand zu geben, ist im Prinzip schon erfüllt. Immerhin, ein Anfang ist gemacht.In einem Diskussionspapier, dass derzeit „unter Sozialdemokraten aus dem engeren Zirkel“ kursiert, wie der Tagesspiegel schreibt, und das in einer Offenheit viele Schwächen der Partei benennt, die man angesichts der Erinnerung an die SPD der vergangenen Jahre schon überraschend nennen muss, heißt es: Die SPD müsse sich „in gewisser Weise neu erfinden. Die Agendapolitik mag ein Versuch zur Modernisierung gewesen sein. Der Schuss ging nach hinten los. Nun ist die Not groß. Es muss nicht alles aber vieles auf Anfang gestellt werden. Wenn Personalfragen zu diesem Zweck gestellt würden, bekämen sie Sinn.“Wenn.