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Regelsätze Der Hartz-IV-Streit wird immer noch als Kosten-Drama aufgeführt und spielt Menschen gegeneinander aus. Eine selbstbewusste Debatte über das Existenzminimum ist nötig

Zu teuer, rufen die einen. Längst überfällig, sagen die anderen. Die Debatte über eine Erhöhung der Regelsätze für Langzeiterwerbslose läuft an der bekannten Demarkationslinie entlang. Zwar hat mancher inzwischen die Seiten gewechselt. Im Wesentlichen aber ist es die Wiederaufführung eines alten Streits. Darüber täuscht auch nicht die bisweilen bürokratisch anmutende Diskussion hinweg, ob sich die Transferleistungen in Zukunft besser an der Inflation, der Nettolöhne oder doch eher an den Lebenshaltungskosten zu koppeln. Dass die Rentenentwicklung nicht mehr der Maßstab sein kein, hatten die Verfassungsrichter im Frühjahr entschieden.

Das Urteil hat seinerzeit aber noch andere Aufgaben gestellt. Es geht um die Frage der Bildungsausgaben für Kinder, um einmalige Leistungen und eine transparentere Berechnung des Anspruchs der Transferbezieher. Mehr noch: Karlsruhe hat von den „materiellen Voraussetzungen“ gesprochen, die für die „physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich“ sind. Der Gesetzgeber hat bei der Entscheidung, in welcher Höhe diese liegen, einen Gestaltungsspielraum, nur nachvollziehbar und transparent müsse es sein. Was am Ende bei den Menschen ankommt, ist also eine Frage der politischen Mehrheiten und des gesellschaftlichen Drucks.

Das Problem dabei: In der Debatte tauchen jene, um die es geht, kaum mit eigenen Ansprüchen, Wünschen und Fragen auf. Was ein akzeptables Existenzminimum ist, wird von anderen diskutiert – und dabei werden gezielt Bevölkerungsgruppen gegeneinander in Stellung gebracht, die zusammen die Mehrheit bilden und deren Konkurrenz zueinander ihnen aufgezwungen wird: Niedriglöhner, Langzeiterwerbslose, Rentner und die so genannte Mittelschicht. Als ob es an Hartz IV liegen würde, dass Hunderttausende von ihrer Arbeit nicht leben können. Oder als ob die Mittelschicht aus naturgegebenen Gründen die finanzielle Hauptlast der sozialen Sicherung trüge. Einmal abgesehen von jenem unsäglichen Grundton, der Transferbezieher stets als unlautere, zu keiner Eigenverantwortung fähige Kandidaten abstempelt, denen man besser einen Gutschein in die Hand drückt, als Geld überlässt.

Genau um das aber geht es. Um mehr Geld – und zwar so viel und so schnell wie möglich. Erstens, weil „ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben“ keine staatlich verordnete Angelegenheit sein darf, bei dem die Bürokratie darüber mitbestimmt, welchen Musikkurs das Armutskind besuchen darf. (Gilt die ins Spiel gebrachte Chipkarte eigentlich auch bei Trägern, die von der CDU als politisch unzuverlässig eingeschätzt werden?) Und zweitens, weil es so offenkundig ist, dass selbst eine – nun schon beinahe als Kompromisslösung erscheinende – Erhöhung auf knapp unter 400 Euro nicht ausreicht.

Wegen der Argumente der Kritiker muss einem jedenfalls nicht bange sein. Wer das Lohnabstandsgebot sichern will, kann dies auch „nach oben“ tun, mit besseren Gehältern und einem ausreichenden gesetzlichen Mindestlohn. Wer Sorgen wegen der klammen Haushaltslage hat, kann die öffentlichen Kassen zu Lasten der bisher unabgeschöpften Vermögensexplosion der letzten Jahrzehnte auffüllen. Das sind Machtfragen, die praktisch zu beantworten nicht einfach sein wird.

Was in der Debatte noch fehlt oder jedenfalls zu schwach entwickelt ist, sind meinungsstarke und interventionsfähige Kreise, die sich den Begriff des Existenzminimums selbstbewusst aneignen: Was wollen wir eigentlich? Was ist für uns ein „Mindestmaß an Teilhabe“? Was wünscht sich jener, der es sich dank Gehalt leisten kann, dass es auch andere bezahlen können, die gerade keinen Job haben? Und was von dem, was bisher zum Standard gehört, sollte dies aus guten Gründen in Zukunft nicht mehr tun? Aus der berühmten Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, die das Statistische Bundesamt alle fünf Jahre erhebt und welche zu den Grundlagen für die Berechnung der Hartz-Regelsätze gehört, lässt sich das kaum ermitteln. Sie bildet den Status quo ab, jenen Zustand also, welcher doch eigentlich der Änderung bedarf.

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Geschrieben von

Tom Strohschneider

vom "Blauen" zum "Roten" geworden

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