Ab jetzt wird mitgeklatscht!

Aussichten Plötzlich war die Stadt von ihnen besetzt. Bis dahin störten nur die Plakate, Transparente und Spruchbänder mit zwei unförmig-eintönigen Figuren. ...

Plötzlich war die Stadt von ihnen besetzt. Bis dahin störten nur die Plakate, Transparente und Spruchbänder mit zwei unförmig-eintönigen Figuren. "Deutsches Turnfest Leipzig" stand darauf, wahrscheinlich, so dachte ich, wieder so eine DDR-Diktatur-Aufarbeitungs-Veranstaltung im Zeitgeschichtlichen Forum.
Es war keine Aufarbeitung, sondern ein Aufmarsch, sie waren wirklich da - und überall. Man hatte ihnen schon den Innenstadtring übergeben, die Polizei winkte mich in die Umleitung. Das letzte Mal war der Innenstadtring zur Durchführung der Revolution abgesperrt. Dann kam erst das neue Geld und ein halbes Jahr später eine neues System. Neues Geld gab´s vor vier Monaten. Was kommt nun? Meine Hände krampften sich um das Lenkrad. Ich starrte auf die Menschenmassen, die die Strecke säumten. Marschmusik, Schalmei, Schellenbaum. Wird Deutschland wieder was erobern? Vielleicht liegt in meinem Briefkasten schon der Gestellungsbefehl? Eine Mauer der Begeisterung und rhythmisch wiegender Unterarme verstellten den Blick. Und über allem der Schellenbaum und die Standarten.
Seitdem ist auch die Innenstadt besetzt. Sie treten nur in Gruppen auf. Trupps von sechs bis zwölf Personen durchstreifen das eroberte Terrain. Sie tragen Turnschuhe und weiße Tennissocken, kurze Hosen oder Sportanzüge und am Hals haben sie immer eine Plakette. Wahrscheinlich steht "Streife des Stadtkommandanten" drauf oder so, ich gucke gar nicht hin. - Nur nicht provozieren.
Sie bewegen sich anders. Jene Zehntelsekunde des Innehaltens und der Orientierung, die Zivilisten beim Betreten eines Cafés, eines Geschäfts oder Restaurants brauchen, benötigen die Sportler nicht. Sie strömen und wälzen sich, ungebremst, unaufhaltsam. Manchmal treffen sich Trupps aus der gleichen Hundertschaft, dann wird es laut. Ich saß mit einer Freundin in einem Café zwischen Barockfassaden und der Thomaskirche, da kam eine Gruppe Sportlerinnen. Sie hatten etwas entdeckt im Freisitz, stellten blitzschnell ihr Gepäck ab, klatschten in die Hände und riefen eine Art Lied. Aus dem Freisitz johlte und klatschte es zurück, auch hinter mir. Ich erstarrte: Die Aliens sind unter uns, überall. Meine Freundin klatschte nicht und rührte im Cappuccino. Gottseidank, sie war noch nicht infiziert und keine von denen! Aber vielleicht bin auch ich morgen schon verloren und einer wie die. Überall auf den Plätzen, selbst in den Bahnhofspassagen, sind Fanfarenzüge und spielen Marschmusik, man kann ihnen nicht entrinnen. Läuft man vorbei, nehmen die Beine irgendwie den Takt auf, widerlich! Noch schaffe ich es stehen zu bleiben oder dagegen zu laufen, - aber wie lange noch? Und würden ihre Patrouillen das tolerieren?
Letztlich war ich mit einer Gruppe von Sportlern aus Süddeutschland in einem Fahrstuhl. Sie scherzten laut und unaufhaltsam. Marschieren und Massengymnastik vitalisiert halt, auch die Zuschauer. Die Frau vor mir war vielleicht Lehrerin. Kann sein, dass sie in den neunziger Jahren ihren Schülern über die psychischen Deformationen der ehemaligen DDR-Bürger unterrichtete, über deren habitualisierten Kollektivismus, die fehlende Ich-Stärke, und wie sich das alles in Massenaufmärschen manifestierte. Ich lächelte ihr zu.
Der Kanzler hat den Sportlern die Stadt übergeben und die Kapitulation erklärt. Wir brauchen jetzt mehr Sinn für Gemeinsamkeit, sagte er. Also: Nix mehr mit Individualisierung, Pluralisierung und solchem dekadenten Quark, vergessen Sie alles, ab jetzt wird mitgeklatscht. Und zwar rhythmisch.

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