Den Finanzmarkt links überholen

Akzelerationismus Das neue Buch 'Making of Finance' zeigt die Finanzmärkte aus der Innensicht und lässt überzeugte Kapitalisten zu Linken werden. Diese Woche wird es in Berlin vorgestellt

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Links überholen – entspricht bei uns der StVO – Foto: jonbonsilver/Pixabay

Eine der angesagtesten Richtungen der politischen Philosophie der Gegenwart ist dies trotz, oder vielleicht gerade wegen ihres äußerst sperrigen Namens, Akzelerationismus. Wer Latein kann, weiß: Es geht um "Beschleunigung". Die Akzelerationisten suchen ihr Heil gegen den Turbokapitalismus nicht in der allseits gepriesenen Entschleunigung, sie wollen den Kapitalismus links überholen und ihn mit seinen eigenen Mitteln schlagen. Dazu muss man aber erst einmal tief in seine Funktionsweisen eintauchen. Am tiefsten – und mit der höchsten Beschleunigung – geht das am Finanzmarkt, dort denkt man in Mikrosekunden (wer es sich vorstellen mag: 0,000001 Sekunden).

Ganz folgerichtig also, dass beim offiziellen Publikationsorgan des deutschsprachigen Akzelerationismus, dem Berliner Merve Verlag jetzt ein Blick hinter die Kulissen der Finanzmärkte geworfen wird: mit dem Band Making of Finance. Explizites Anliegen der Herausgeber, Armen Avanessian und Gerald Nestler, ist es, nicht aus geisteswissenschaftlich-theoretischer Perspektive die Finanzbranche zu kritisieren, sondern ihre profiliertesten Praktiker und Produzenten selbst zu Wort kommen zu lassen. Der Literaturwissenschaftler Avanessian und der Künstler Nestler sprechen von einer Poetik der Ökonomie“. Auch Avanessians Konzept der „Spekulativen Poetik“ würde hier passen, geht es an der Börse doch zu einem wesentlichen Teil um Spekulation. Während aber etwa Christoph Türcke kürzlich mit seiner spekulativen Kritik am Geldsystem in die prähistorische Vergangenheit abtauchte, geht es beim Akzelerationsimus vor allem um die Zukunft.

Avanessian, Vorzeige-Akzelerationist im deutschsprachigen Raum, hat als Autor und Merve-Herausgeber der Reihe Spekulationen die Beschleunigung zunächst einmal auch auf das mittelalterliche Medium des gedruckten Buchs übertragen. Im vergangenen Jahr hat er beinahe jeden Monat einen Band herausgebracht, das reicht schon fast an die Produktionszyklen des iPhone heran. Zusammen mit Nestler, der in den 90er Jahren vorübergehend als Broker arbeitete, hat er nun zum Teil aus Nestlers jüngsten Videoarbeiten stammende Gespräche mit Pionieren und Koryphäen der quantitativen Finanzanalyse gesammelt, etwa dem Mathematiker Edward O. Thorp oder dem Finanz-Whistleblower Haim Bodek.

Den Markt besiegen

Thorp hatte in den frühen 60er Jahren zunächst Glücksspiele wie Roulette und Black Jack mathematisch anlysiert und in den Kasinos von Las Vegas die Praxistauglichkeit seiner Theorien demonstriert. Als der von ihm mitentwickelte erste am Körper tragbare Computer dort verboten wurde, fing er an, seine Expertise und das gewonnene Geld in das noch weit größere Glücksspiel der Finanzbörsen zu investieren, an denen der Siegeszug der Computer gerade erst begann. Thorp entwickelte nun mithilfe mathematischer Modelle von bestimmten Wertpapier-Derivaten, den Optionsscheinen, sogenannte hedging-Strategien, die das Verlustrisiko an der Börse minimieren, eben 'einhegen' sollten. Ein Clou dabei ist, dass etwa über 'Leerverkäufe' auch aus fallenden Kursen Profit geschlagen werden kann. Das Investitionsprinzip der Aktie, das ursprünglich ja auf einer positiven Erwartung beruht, wird somit in gewisser Weise in sein Gegenteil verkehrt. Das Profitprinzip erreicht dagegen eine neue Ebene. Thorp verfügte nach seiner Aussage bereits 1967 über die Formel, die 1973 von Fisher Black und Myron Scholes veröffentlicht wurde und, nachdem im selben Jahr mit dem Chicago Board Options Exchange (CBOE) ein Marktplatz für Optionsscheine geschaffen wurde, als Black-Scholes-Modell eine beispiellose Karriere in der Finanzbranche machte. Dieses Modell war überhaupt erst die Voraussetzung für Börsen wie die CBOE, weil es den Derivathandel berechenbar machte, der zuvor als reines Glücksspiel angesehen wurde und gar als unpatriotisch verboten war, weil man annahm, dass das Setzen auf fallende Kurse der Wirtschaft schade.

Einige solcher Hintergründe erfährt man schon aus der äußerst informativen Einleitung der Herausgeber (ergänzt durch ein Glossar am Ende des Bandes), die eben die Derivate ins Zentrum der heutigen Finanzmärkte stellen. Das liegt zum einen an den gigantischen Summen, die über Derivate gehandelt werden: etwa 700 Billionen Dollar, im Vergleich zu einem weltweiten Bruttoinlandsprodukt von 78 Billionen Dollar. Doch in Derivaten realisiere sich zudem „auf technologisierte Weise, was die kapitalistische Investition vom Frühkapitalismus an bestimmt hat: die Antizipation zukünftiger Preise bzw. Profite und die damit einhergehende Notwendigkeit eines entsprechenden Risikomanagements.“ Dafür sorgen Derivate, indem sie nicht direkt mit assets, etwa Aktien, Anleihen, aber auch Rohstoffen, handeln, sondern nur noch mit deren Preiserwartungen. Dieser Zwischenschritt bietet nun nicht nur eine Absicherung gegen fallende Kurse, sondern eben sogar die Möglichkeit, an ihnen zu verdienen. Dabei ist die finanzielle Einstiegsschwelle sehr niedrig, durch die berühmte Hebelwirkung aber auch die Verlustmöglichkeit umso höher. Daher ist es so wichtig, genau zu wissen, worauf man setzt. Und hier kommen Mathematik und Computer ins Spiel, und mit ihnen die quantitativen Analysten, die sogenannten Quants, als deren „Vater“ Thorp gilt.

Das Finanzsystem in Frage stellen

Zur auf ihn folgenden Generation von Quants gehört auch Haim Bodek. Und während auch Thorp über mangelnde Chancengleichheit, fehlende Transparenz und Verantwortlichkeit an den Börsen klagt, will der Whistleblower Bodek den Mythos vom effizienten Markt vollständig entmystifizieren. Die Komplexität der menschengemachten quantitativen Verfahren sei im high-frequency trading (HFT) aus Kostengründen zunehmend durch simple Automation ersetzt worden, bei der es nicht mehr darum gehe, wer die intelligenteren Algorithmen programmiere, sondern wer die niedrigste „Latenz“, also die höchste Reaktionsgeschwindigkeit erreiche – und die sei eben umso höher, je simpler der Code. Dieses race to the bottom sei ein gnadenloser Verdrängungskampf mit minimalen Gewinnmargen, in dem private Kleinanleger überhaupt keine Chance mehr hätten. Doch auch die großen Investmentfirmen kommen nicht ohne geheime Absprachen und das Ausnutzen von staatlichen Regulierungsfehlern aus. Als Bodeks eigenes HFT-Unternehmen aufgrund solcher Absprachen der Konkurrenz bankrott ging, entschloss er sich 2012, derartige Praktiken der Finanzmärkte aufzudecken und erreichte durch seine Aussagen schließlich in diesem Jahr die Verurteilung einer der weltweit größten elektronischen Handelsplatformen, BATS Global Markets, zu einer Strafe von 14 Millionen Dollar.

Doch Bodek will mit seiner Enthüllung von Marktverzerrungen auch das Finanzsystem überhaupt in Frage stellen und eine Selbstreflexion der Branche bewirken. Es gebe in ihr weder Moral noch auch nur Vernunft, die Risiken seien einfach zu hoch. Durch weit gestreuten Missbrauch wird die Börse auch in Zeiten des vollcomputerisierten Handels wieder zum Glückspiel. Und der Staat, anstatt einzugreifen, zwinge seine Bürger noch zum Mitspielen. Im Grunde ist Bodek kein großer Freund von staatlicher Regulierung, die Utopie des sich selbst regulierenden Marktes ist nach wie vor verlockend. Aber sie funktioniere nunmal nicht. Die Amoralität der Börse mache eine staatliche Regulierung und eine neue gesellschaftliche Werte-Diskussion über einen progressiv-demokratischen Kapitalismus notwendig. Aber der Weg dahin scheint noch sehr weit.

Need for speed

Radikal anders sieht das der Ökonom und Hedgefondmanager Rishi K. Narang. Er darf im einzigen Aufsatz des Bandes nun noch eine Lanze für das high-frequency trading (HFT) brechen, das er zunächst vom high-speed trading unterscheidet. Das HFT benötige zwar, wie der übrige Finanzmarkt auch, eine high-speed Infrastruktur, sei darauf aber nicht zu reduzieren. Eine viel genauere Bestimmung, als dass HFT typischerweise im Zeithorizont von unter einem Tag operiert, gibt Narang aber erst einmal nicht. Stattdessen spricht auch er sehr viel über Geschwindigkeit. Eindrucksvoll zeichnet er nach, wie schon 1815 die Rothschild Bank als erste über Napoleons Niederlage bei Waterloo informiert war und so rechtzeitig ihre französischen Staatsanleihen abstoßen konnte, weil sie die hochmoderne Technologie der Brieftaube einsetzte. In heutiger Zeit ließ die Firma Spread Networks eine 2,5 cm breite Schneise entlang des kürzesten Weges von New York nach Chicago schlagen, um durch diese Direktverbindung mit Glasfaserkabel eine ganze Millisekunde der Datenübertragung einzusparen. Und um nur wenig später durch Mikrowellentechnologie wieder übertroffen zu werden. Momentan werde an noch schnelleren Laserübertragungen gearbeitet.

Insofern deckt sich Narangs Beschreibung mit der Bodeks, es geht beim HFT nicht um möglichst elaborierte Algorithmen, sondern um deren möglichst schnelle Ausführung. Nur was die Marktchancen angeht, liegen ihre Meinungen radikal auseinander. Wo Bodek vor allem „Wettbewerbsverzerrung“ sieht, spricht Narang von „Wettbewerbsvorsprung“ und einem „massiven Fortschritt an Chancengleichheit“ im Vergleich zum „good ol' boys' clubder alten Wallstreet, den Bodek sich geradezu zurückwünscht, weil er umgekehrt damals mehr Transparenz am Werk sieht. Man fragt sich, inwiefern dieser krasse Widerspruch auch zumindest ein Stück weit mit Gewinner- und Verliererperspektive zu tun haben könnte. Doch auch wenn man mit Narang gerne optimistisch bleibt, dass zumindest die potenzielle Chancengleichheit am Finanzmarkt heute größer ist und ihre größten Bedrohungen andere sind als HFT, wird sein Text gegen Ende zum marktliberalistischen Manifest, das schließlich gar eine „faschistoide Denkweise hinter der Frage nach gesellschaftlichen Werten“ vermutet. An dieser Stelle hätte man sich gerade für die Aussagen Narangs die Interviewfragen der Herausgeber als kritisches Korrektiv gewünscht. Vielleicht wollte man aber auch gerade diese extreme Position als Gegengewicht für sich stehen lassen. Sie verifiziert exemplarisch die Warnung der Einleitung, dass man es bei den vorgestellten Finanzakteuren trotz ihrer Kritik durchaus mit überzeugten Kapitalisten zu tun habe.

Sozialer Marktradikalismus

Dass ihre politischen Ansichten dennoch „nicht selten denen ausgemachter Linker“ ähnelten, wird aber im letzten Gespräch wieder deutlich, das Avanessian und Nestler gemeinsam mit den Pariser Finanztheoretikern und Unternehmern Elie Ayache und Philippe Henrotte geführt haben. Allerdings wird auch von ihnen die Frage nach Wertbestimmungen durch die nach Preisfindung ersetzt. Auch dies ist letztlich eine Marktutopie, in der über Derivate und das Anerkennen von Kontingenz „Zukunft gestaltet“ werden soll. Wie zu diesem Zukunftsmarkt allerdings die bejahte ethische und politische Komponente genau hinzukommen soll, bleibt noch etwas im Unklaren. Denn gerade wenn Henrotte die Finanzmärkte eher soziologisch als naturwissenschaftlich betrachtet wissen will, ist es doch fraglich, ob sich alles, vor allem auch das Soziale, auf diese Weise in Preisen quantifizieren und ökonomisieren lassen kann bzw. soll. Dass wir allerdings an diesem Punkt unserer „derivativen Kondition“ (Nestler) schon weitgehend sind, muss freilich zunächst einmal anerkannt und verstanden werden, bevor man angemessen darauf reagieren kann.

Das von Ayache vorgeschlagene Konzept ist das von equity, Eigenkapital. Es bedeutet, dass Investitionen nicht mehr über Kredite, also Verschuldung funktionieren sollen, sondern über Beteiligung. Wer etwa ein Haus bauen will, müsste dafür nicht bei einer Bank einen Kredit aufnehmen, um dann, wenn er irgendwann seine Schulden nicht mehr bedienen kann, dafür sein Haus wieder an die Bank zu verlieren. Stattdessen würde die Bank ihm equity zur Verfügung stellen, was zwar bedeutet, dass er ihr sein Leben lang eine Dividende zahlen muss. Aber sollte er irgendwann kein Geld mehr haben, hat die Bank keinen Anspruch auf sein Haus. Doch auch diese Risikobeteiligung durch equity wird vom Vertrauen des Marktes reguliert.

Spannend ist hier allerdings der Hinweis von Avanessian und Nestler auf das bedingungslose Grundeinkommen als eine Art von equity, der auch Henrotte und Ayache positiv gegenüber stehen. Dieses Konzept ist aber doch gewissermaßen eine Form von social equity, durch die zunächst einmal allen ein bedingungsloses (Mindest-)Vertrauen ausgesprochen wird, in der Annahme, dass das eine Grundvoraussetzung für jedwede Art von kreativer gesellschaftlicher Leistung ist. Für den Markt bleibt dann schon immer noch genug Platz. Die Tatsache aber, dass das bedingungslose Grundeinkommen quer durch alle politischen Lager sowohl von marktliberalen Hayekianern als auch von Linken und Marxisten unterstützt wird, zeigt vielleicht sogar eine Art möglichen Konvergenzpunkt dieser beiden Utopien, Markt und Marx.

Die Finanzwirtschaft demokratisieren

Für Henrotte müsste dafür aber letztlich auch unser Geldsystem erneuert werden. Es darf nicht mehr auf Schulden basieren, von denen am Ende immer am meisten die Banken profitieren. Sondern die Schulden müssten in eine Form von equity überführt werden. Das heißt aber auch: „Wir müssen die Finanzwirtschaft demokratisieren“ – und zwar durch Technologie. Mit dieser Aussicht endet der äußerst anregende Band, der allerdings mindestens ebenso viele Fragen aufwirft, wie er beantwortet. Die Gesprächspartner betonen wiederholt, dass sie, obwohl Finanzmarktakteure, auch keine Antworten auf die drängendsten Fragen parat hätten. Aber diese Fragen richtig zu stellen, ist ja schon ein guter Anfang. Nur reicht das, um den Kapitalismus an der Börse zu überholen?

Thorp hat in den 60er Jahren im Spielkasino gezeigt, dass man mit Denken und Wissen etablierte Machtstrukturen aufbrechen kann. Dieser kritische Impuls hat in der Folge die Finanzbörsen revolutioniert, und ihm hat letztlich auch Narang noch seine egalitäre Marktutopie zu verdanken. Doch es ist eine Binsenweisheit, dass der Kapitalismus seine Kritik meist zu inkorporieren weiß. Auch wird der Spielraum für Innovationen immer enger. Ohne moralische Fragen wird es nicht gehen, die Finanzmärkte sozialer und demokratischer zu machen. Aber Bodek und Narang treffen sich vielleicht in dem Punkt, dass dies zuallererst auch ein Problem der Politik ist, die selbst erst noch demokratisch werden muss. Sie und damit wir alle müssen die moralischen und sozialen Fragen stellen, aber nicht gegen die Finanzmärkte, sondern mit ihnen. Der vorliegende Band bietet dafür eine sehr gute Gelegenheit. Und in den nächsten Tagen kann man in Berlin und Wien darüber ins Gespräch kommen.

Diese Rezension erscheint auch bei demokratiEvolution

Armen Avanessian/Gerald Nestler (Hg.), Making of Finance, Merve Verlag Berlin, 140 Seiten, 15 Euro. Erscheint am 5. Juni.

Buchvorstellungen mit Elie Ayache (auf Englisch):
Berlin: Freitag, 5. 6., 19h, Schinkel Pavillon, Oberwallstr. 1, 10117.
Wien: Montag, 9. 6., 19h, Kunstraum Bernsteiner, Schiffamtsgasse 11, 1020; dort auch die Ausstellung Hedge Avantgarde von Gerald Nestler, bis 13. 6.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Tom Wohlfarth

Politische Theorie und Kultur

Tom Wohlfarth

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