Der Ehemann ist nackt

Literatur Mutterwerden war gestern. Jetzt hat Rachel Cusk ein düsteres Buch über ihre Scheidung geschrieben
Ausgabe 17/2020
Man muss keine schmutzige Wäsche waschen, sondern kann auch im Individuellen Ausdruck für Universelles suchen
Man muss keine schmutzige Wäsche waschen, sondern kann auch im Individuellen Ausdruck für Universelles suchen

Foto [M.]: Dan Kitwood/Getty Images

Kann es sein, dass die landläufige Vorstellung der Menschheitsgeschichte, nach der sich vermeintliche zivilisatorische Hochphasen mit dunklen, chaotischen Zwischenspielen abwechseln, falsch ist? Was, wenn dieses Dazwischen statt einem Abgrund eher einem Aufatmen gleicht, in dem die menschliche Natur sich auch einmal vom entfremdenden Joch der Zivilisation erholen kann? Diese kulturkritische Wendung hat der niederländische Historiker Rutger Bregman zuletzt in seinem Buch Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit ausgedeutet.

Die britische Autorin Rachel Cusk überträgt dieses historische Dazwischen nun auf das biografische „Danach“ der Trennung. Zwar geht sie in ihrem gleichnamigen Buch keineswegs so weit, diese Phase für grundgut zu erklären, jedoch erinnert sie sich gleich zu Beginn an ihre Geschichtslehrerin, die etwa die „unbesiedelte Ödnis“ des frühen mittelalterlichen Englands liebte, „die Klöster, wo in aller Stille die Kreativität gefördert wurde, die Mystiker, die Visionäre“, besonders aber „die Frauen, die in jenen formlosen, undefinierten Jahrhunderten an Gestalt gewannen“, und allgemeiner noch „das persönliche Graswurzelniveau, auf dem in Abwesenheit der großen Verwalterin namens Zivilisation alle Fragen nach Recht und Glauben neu verhandelt werden mussten“.

Im englischen Originaltitel des Buchs findet Cusk dafür den Begriff „Aftermath“, der ursprünglich das „Spätheu“ bezeichnet, „eine zweite Ernte, die nach dem eigentlichen Schnitt gemäht und eingebracht wird“. Als eine solche zweite Ernte darf man nun getrost auch Cusks Büchlein verstehen, dessen essayistische Kapitel dem ursprünglichen Schnitt der Trennung, der Scheidung von ihrem Ehemann und dem Vater ihrer zwei Töchter, eine Fülle von philosophischen, biografischen und literarischen Reflexionen abgewinnen.

Zugleich muss man Danach aber auch als Nachspiel zu Cusks Buch Lebenswerk über ihr Mutterwerden betrachten (der Freitag 46/2019). Dessen deutsche Übersetzung konnte im vergangenen Jahr – das Original war 2001 erschienen – wohl noch als Ausläufer der Regretting-Motherhood-Debatte gelten, die ausgehend von der gleichnamigen Studie der Soziologin Orna Donath von 2015 die übliche Erwartung an Mütter, ihre Rolle bedingungslos und ohne Bedauern anzunehmen, hinterfragte.

Pseudo-Feminismus

Cusk hatte ihre eigene Mutterschaft als derartigen Bruch mit ihrem bisherigen Selbstverständnis als kreative berufstätige Frau empfunden, dass sie und ihr Mann – als Cusk nach einem halben Jahr mit dem zweiten Kind schwanger wurde – entschieden, dass er seinen Job als Anwalt aufgeben, sich um die Kinder kümmern und sie als Autorin die Familie finanziell versorgen würde. So entstand Lebenswerk in der Zeit um die Geburt von Cusks zweiter Tochter.

Zehn Jahre später beginnt Danach damit, dass Cusks Mann gegen diese Rollenverteilung rebelliert. Obwohl sie ihm auch das Prestige der Kinderfürsorge ganz überlassen hatte und ihren Anteil an der Hausarbeit allein in dessen Dienst stellte, fühlt er sich irgendwann als Mann in der „Frauenrolle“ von seiner Frau alleingelassen. Sie nenne sich Feministin und belasse nur einfach ihn statt ihrer selbst in der weiterhin patriarchalen Unterdrückung, als hätten sie lediglich die Kleider getauscht.

Und so zeigt sich in dieser doppelten Larmoyanz – der des Mannes und Cusks in deren Bericht immerhin zu einer beredten Ratlosigkeit geronnenen – das Dilemma der modernen Geschlechtergesellschaft, das im Scheitern der vermeintlich „gleichberechtigten“ Verbindung seinen Ausdruck findet: Sie kommen auch in den neuen Kleidern (noch) nicht aus ihrer archaischen Haut heraus. Die alten Rollen sind zwar (scheinbar) tot, aber die neuen noch nicht (ganz) geboren. So kehren die alten als Untote zurück, fühlt sich Cusk im Augenblick der Trennung auf den „primitiven Maternalismus“ zurückgeworfen, der ihr ein Leben lang aberzogen worden war.

„Was ich als Feminismus lebte, war in Wahrheit eine Ansammlung männlicher Werte, die meine Eltern und andere Menschen mir in bester Absicht vermacht hatten – das Crossdressingvorbild meines Vaters, die antifemininen Ideale meiner Mutter. Ich bin keine Feministin, sondern ein von Selbsthass erfüllter Transvestit.“ Die folgenden Kapitel sind Versuche, mit diesem Dazwischen, dem Zugleich von Danach und Davor, von Nicht-mehr und Noch-nicht zurande zu kommen.

Mehr noch als in Lebenswerk ist beeindruckend, mit welch einer scheinbaren Distanz Cusk in Danach über die eigenen leidvollen Erlebnisse zu reflektieren vermag. Hier wird (fast) keine schmutzige Wäsche gewaschen, sondern im Individuellen ein Ausdruck für universelle Verhältnisse gesucht.

Zunächst noch etwas plakativ mit der Schilderung einer Backenzahnentfernung (wobei die sehr zu lobende Übersetzerin Eva Bonné der englischen Kapitelüberschrift „Extraction“ mit ihrem schönen „Ziehen lassen“ eine doppelte Dimension zu verleihen vermag), zunehmend aber auch mit erratischeren Episoden, mit anrührenden Porträts der Töchter oder mit der beklemmenden Schilderung des körperlichen Verfalls. Zuletzt spiegelt Cusk ihr Memoir in einer wundervollen Kurzgeschichte von Fremdheit, Heilung und Erwachsenwerden.

Dazu kommen eingehende Betrachtungen der griechischen Mythologie, vor allem des blutigen Familienfluchs aus Aischylos’ Orestie, die damit beginnt, dass eine Frau gemeinsam mit ihrem neuen Liebhaber ihren Ehemann ermordet, weil der zuvor die gemeinsame Tochter geopfert hat. Der brutalen emotionalen Wahrheit der antiken Tragödie stellt Cusk die lügnerische Perfektion der christlichen Heil(ig)en Familie gegenüber, die „an dem Tag, als der schwächliche Josef einwilligte, die schwangere Maria zu heiraten, (…) die Zivilisation zu zwei Jahrtausenden institutioneller Heuchelei verurteilte“.

Man muss Cusks düsteren Analysen nicht ins Letzte folgen, um ihrem Versuch, „aus dem Leid zu lernen“ und der ewigen Unzulänglichkeit alles Menschlichen gerecht zu werden, höchste Achtung zu zollen. Danach ist ohne Zweifel ein Meisterwerk des autofiktionalen Essays, das mehr schmerzt, als man es wahrhaben möchte, das aber an Stellen versöhnt, an denen man es am wenigsten vermuten würde.

Info

Danach. Über Ehe und Trennung Rachel Cusk Suhrkamp Verlag, 187 S., 22 €. Erschienen als E-Book, gebunden erhältlich vom 15. Juni an

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Geschrieben von

Tom Wohlfarth

Politische Theorie und Kultur

Tom Wohlfarth

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