Die Hildebrandts

Trilogie Jonathan Franzen will in drei Romanen von drei Generationen erzählen – und beginnt mit „Crossroads“ am 23. Dezember 1971
Ausgabe 40/2021
Pfarrer Russ wird mit einem Sohn konfrontiert, der in den Vietnamkrieg ziehen will
Pfarrer Russ wird mit einem Sohn konfrontiert, der in den Vietnamkrieg ziehen will

Foto: Stuart Lutz/Gado/Getty Images

Gibt es etwas Schlimmeres als ein mittelmäßig begabter, mittelalter Vorstadtpfarrer zur Mitte des 20. Jahrhunderts im Mittleren Westen der USA zu sein? Schlimmer ist da eigentlich nur, auch noch von den eigenen Kindern in jeder Hinsicht überflügelt und für die eigene Mittelmäßigkeit verachtet zu werden. Nun, zumindest für Russ Hildebrandt, eine der Hauptfiguren in Jonathan Franzens Roman Crossroads, ist das ein ziemlicher Schlag in die Magengrube seiner Midlife-Crisis.

Jonathan Franzen, offizieller Statthalter der Great American Novel auf Erden – zumindest wenn es nach dem Time Magazine geht, das ihn 2010 mit dieser Anspielung auf dem Cover zeigte –, ist also zurück. Schon während der Arbeit an seinem letzten Roman, Unschuld (2015), gab Franzen zu Protokoll, er habe die Illusion aufgegeben, kurze Romane schreiben zu können. Er müsse seine Geschichten nun mal stets aus mehreren Perspektiven erzählen. Nach fünf 700-bis-800-Seiten-Kloppern geht Franzen nun einen Schritt weiter: Crossroads – 832 Seiten in der deutschen Ausgabe – ist als erster Teil einer Trilogie angekündigt, die den selbst für Franzens Verhältnisse unsubtilen Titel Ein Schlüssel zu allen Mythologien trägt und die Geschichte der Hildebrandts über drei Generationen hinweg erzählen soll.

In (fast) bester Manier von James Joyce, dessen 1.000-Seiter Ulysses sich nur über einen einzigen Sommertag im Jahr 1904 erstreckt, spielt auch ein Großteil der Haupthandlung von Crossroads an einem Tag, dem 23. Dezember 1971. Russ Hildebrandt ist der unterbezahlte zweite Pfarrer einer wohlhabend-weißen evangelischen Gemeinde in New Prospect, einer fiktiven Kleinstadt nahe Chicago, und an diesem Tag hat er es nach Wochen der Vorbereitung geschafft, seinen Frauenkreis, mit dem er zweimal im Monat einer schwarzen Gemeinde in der Chicagoer Southside zur Hand geht, auf eine einzige Dame zu reduzieren: die zehn Jahre jüngere Witwe Frances, die in Russ nach dreißig zunehmend frustrierenden Ehejahren unverhofft wieder die Lebensgeister geweckt hat.

Wenn diese Zusammenfassung schon etwas ironisch anmutet, dann hat das durchaus Gründe. Denn mehr noch als in Franzens früheren Romanen tragen die Figuren in Crossroads, allen voran Russ, bisweilen geradezu karikatureske Züge, die einen aber oft genug weniger erheitern als beinahe unangenehm berühren (ein Effekt übrigens, der in der von Sascha Rotermund genüsslich eingelesenen Hörbuchfassung besonders zum Tragen kommt). Russ etwa wird im Laufe des Tages als derart schlappschwänziges, dabei cholerisch-eitles Würstchen gezeigt, dass es zum Erbarmen sein könnte, wenn es nicht so zum Fremdschämen wäre. Drei Jahre zuvor als geltungssüchtiger Langweiler von seinem coolen jungen Assistenten Rick als Leiter der titelgebenden Jugendgruppe Crossroads abgesetzt, trieft seine Existenz nur so von Abgelebtheit. Er selbst beschreibt sich in einem Anfall von Selbstmitleid als „törichten, gestrigen, abstoßenden Clown“. Allein dass eine attraktive junge Frau wie Frances an ihm Interesse zeigt, deutet darauf hin, dass unter der schäbig bröckelnden Fassade auch einst bewundernswerte Qualitäten schlummern mögen.

Doch zum Glück hat Russ auch vier großartige Kinder, deren drei älteste jeweils eigene Erzählstränge bekommen. Zu den meisten seiner Sprösslinge hat Russ freilich ein gestörtes Verhältnis, wobei jeweils die Crossroads-Gruppe eine entscheidende Rolle spielt. Da ist etwa der 15-jährige hyperintelligente Perry, zu Romanbeginn zwar in erster Linie ein brillanter Kiffer und Drogendealer, doch durch seinen Eintritt bei Crossroads wird er zu einer Art moralischen Gewissens der Familie – zumindest zwischenzeitlich. Die zwei Jahre ältere Becky kam zwar nur deswegen zur hippiesken Jugendgruppe, weil der süße Musiker Tanner sie dazu eingeladen hatte, doch nach ihrem ersten Marihuana-Trip wird sie das erste Familienmitglied, das jemals wirklich Gott gesehen hat. Der Älteste schließlich, Clem, hat zwar am College gerade erst die mystische Erfahrung von Liebe und Sex entdeckt, doch um den selbstgerechten moralischen Rigorismus seines pazifistischen Vaters zu übertrumpfen, entschließt er sich urplötzlich, auf seine Zurückstellung vom Militärdienst zu verzichten und aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit in den Vietnamkrieg zu ziehen.

Affäre, Abtreibung, Psychiatrie

Nun gut, auch hier findet sich reichlich satirisches Potenzial. Aber Gott sei Dank gibt es ja noch Mutter Marion. Die ist eingangs zwar noch klischeehafter als ihr Ehemann Russ – eine übergewichtige Hausfrau der späten Wirtschaftswunderjahre, die zum Zeichen des Therapiebooms der sich ankündigenden amerikanischen Scheidungsepidemie erst einmal seitenweise im Analysezimmer psychologisiert werden muss, bevor sie sich wirklich zur Romanfigur entwickeln darf. Dabei bringt sie zunächst auch die über weite Strecken leitend erscheinende Philosophie des Romans zum Ausdruck: „Schlechtigkeit ist der Grundzustand der Menschheit.“

Und doch bewirkt Marions Aufarbeitung ihrer bewegten Kindheits- und Jugendgeschichte – unglückliche Affäre, Abtreibung, Psychiatrie –, dass sie als erste Figur eine wirklich wünschenswerte innere Wandlung vollzieht und zu ihrer einstigen Lebensfreude zurückfindet. Dadurch rückt, wie in den meisten von Franzens Romanen, auch hier eine Frauen- und Mutterfigur ins eigentliche Zentrum. Einen intellektuellen Höhepunkt allerdings hat der Roman, als Russ und Clem sich ein ausgiebiges Wortgefecht über Clems Plan zur Kriegsteilnahme liefern. Franzens Begabung der bissigen, politischen Argumentation wird hier eins mit seiner Meisterschaft für plastische Dialoge.

Nachdem dann also auch Russ wieder auf annähernd menschliche Größe gewachsen ist, dürfen wir endlich auch seine ruhmreiche Vorgeschichte hören. Wie er, aus einer weltfernen Mennonitenfamilie stammend, als junger Kriegsdienstverweigerer in Arizona nicht nur die Kultur der indigenen Navajos entdeckt, sondern zudem seiner großen Liebe Marion begegnet: er der puritanische Moralist, sie die „Hosen tragende Tochter eines Juden, die als Katholikin mit Homosexuellen zusammenlebte“ – und für die er dauerhaft mit seiner Familie bricht, um sich gemeinsam mit Marion eine liberalere protestantische Gemeinde zu suchen. Als sie sich nun, nach 30 Jahren schleichender Entfremdung, im Angesicht einer gewaltigen Katastrophe wieder annähern, spielt auch ihr gemeinsamer, vor allem aber Marions, Glaube eine entscheidende Rolle.

Ist das nun religiöser Kitsch oder eine feministische Fortschrittserzählung? Das wird wohl jede Leser:in für sich selbst entscheiden müssen. Auch der Roman bietet unterschiedliche Einschätzungen der Kinder dazu. Im Grunde reiht sich Crossroads nahtlos in Franzens große Familienromane ein, wobei die Streckung auf diesmal nicht nur einen, sondern gleich drei Riesenwälzer womöglich für Intensitätseinbußen sorgt. Auch der bisweilen aggressiv satirische Ton geht nun endgültig über das Urmodell der Familienverfallsromane, Thomas Manns Buddenbrooks – das der Germanist Franzen durchaus im Original gelesen haben dürfte – hinaus.

Natürlich greift in Crossroads noch immer Franzens zu Recht weltberühmte Meisterschaft, menschliche Lebenswandlungen und Beziehungsdynamiken sprachgewaltig und einfühlsam freizulegen. Mich persönlich aber hat sie hier weitaus weniger berührt als etwa in Freiheit, Franzens Glanzstück von 2010, zu dem Crossroads wohl die größten Ähnlichkeiten aufweist. Womöglich aber geht das Franzen-Neulingen anders, sie mögen sich hier also nicht abschrecken lassen. Liebhaber psychologisch komplexer und weltanschaulich tiefschürfender Familienromane – in diesem Fall im historischen Kontext des Übergangs von der stark christlich geprägten amerikanischen Bürgerrechtsbewegung der 60er- zur Counter Culture der 70er-Jahre – werden gewiss auch in Crossroads auf ihre Kosten kommen. Umso mehr, da die bereits parallel zum amerikanischen Original erscheinende Übersetzung von Bettina Abarbanell beeindruckend gelungen ist.

Info

Crossroads Jonathan Franzen Bettina Abarbanell (Übers.), Rowohlt 2021, 832 S., 28 €

12 Monate für € 126 statt € 168

zum Geburtstag von F+

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