Die Infantilisierung unserer Gesellschaft

Sozialpsychologie Rauchverbot, Bologna-Reform, Hartz-IV – warum lassen wir uns eigentlich wie Kinder behandeln? Eine Antwort auf Paul Verhaeghe, und die Frage nach dem guten Leben

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Vor einigen Wochen hat der belgische Psychologe Paul Verhaeghe im Guardian und hier im Freitag in einem Artikel über den „neoliberalen Charakter“ Richard Sennetts Formulierung von der „Infantilisierung der Angestellten“ aus dessen Buch Respect in a World of Inequality von 2003 wieder aufgenommen. In seinem Klassiker von 1977, The Fall of Public Man, hatte der Soziologe Sennett die von Jürgen Habermas entwickelte Theorie vom Strukturwandel der Öffentlichkeit weitergeführt, wonach die in der Moderne erkämpfte und sie prägende „bürgerliche Öffentlichkeit“ in unserer Zeit dabei sei, sich durch ihre vollkommene Herstellung selbst wieder aufzuheben. Sennett sprach damals von den „Tyrraneien der Intimität“, für die der private und der öffentliche Bereich verschmolzen sind. Auf das eigentliche Intimleben bezogen bedeutet das etwa, dass der Sex die Erotik des Rollenspielerischen verliert zugunsten eines Zwangs zu persönlicher Offenbarung, die wiederum Narzissmus begünstigt. Ein Beispiel aus dem ursprünglichen Bereich der Öffentlichkeit wäre die neuere Generation von Talkshows, die keiner sachlichen Diskussion allgemein bedeutsamer Angelegenheiten dienen, sondern allein der Selbstdarstellung der Teilnehmer.

Doch schon für Habermas begann diese Entwicklung in der Sphäre der Erwerbsarbeit als einem Dritten zwischen Öffentlichkeit und Privatheit. Und Verhaeghe resümiert für die Gegenwart: „Permanente Evaluationen am Arbeitsplatz führen zu einem Verlust von Autonomie und einer steigenden Abhängigkeit von externen Normen, die sich darüber hinaus ständig ändern. Dies führt zu dem, was der Soziologie Richard Sennett als 'Infantilisierung der Angestellten' bezeichnet hat. Erwachsene Menschen zeigen kindliche Gefühlsausbrüche; Nichtigkeiten erwecken Neid und Eifersucht ('Sie hat einen neuen Bürostuhl bekommen und ich nicht!'). Sie greifen zu Notlügen und Betrug, freuen sich über den Misserfolg anderer und kultivieren kleinliche Rachegefühle. Das alles sind die Folgen eines Systems, das die Menschen systematisch daran hindert, selbständig zu denken und die Mitarbeiter eines Unternehmens nicht wie erwachsene Menschen behandelt.“

Narzissmus und Beuteverzicht

Als ein besonderes Merkmal des infantilen oder kindlichen Charakters gilt spätestens seit Freud der Narzissmus. Sennett zeigte, wie gesagt, schon 1977, wie die Verschmelzung von öffenlicher und privater Sphäre einen Primat der Persönlichkeit, des sogenannten „Authentischen“, und in dessen Verabsolutierung letztlich Narzissmus als seine Pathologie erzeugt. In diesem Zusammenhang bezieht sich auch der Wiener Philosoph Robert Pfaller auf Sennett. In seinem Buch Worfür es sich zu leben lohnt von 2011 kommt er zu dem Schluss, dass „Sennetts Kritik […] vielleicht erst heute, unter der Vorherrschaft des Neoliberalismus, ihre ganze, entscheidende Tragweite [zeigt]. Denn unter neoliberalen Verhältnissen ist aus dem kulturellen Narzissmus eine entscheidende ideologische Stütze der massiven gesellschaftlichen Umverteilung geworden./ Da der Narzissmus alles, was dem Ich nahesteht, dem vorzieht, was auf der Seite der Welt zu finden ist, tendiert er zum Beuteverzicht“ (S. 83).

Pfaller bezieht das auf seine Diagnose, wonach unsere Gesellschaft das Genießen verlernt hat – und das obwohl wir heute mehr Dinge zu genießen hätten als jemals zuvor. Aber das ist natürlich auch Teil des Problems, der pausenlose Konsum hat den par excellence pausierenden Genuss ersetzt. Und selbst wo gegen diese Verhältnisse protestiert wird, geschieht das entweder nur durch scheinbar nachhaltigen, 'grünen' Konsum, also einfach durch eine andere Art von Konsum; oder im Gegenteil durch zwanghaften Konsumverzicht: „Wir mäßigen uns maßlos“, formuliert es Pfaller. In beiden Fällen geschieht der Protest jedenfalls nicht im Namen des Genusses. Der findet, wenn überhaupt, vorwiegend noch 'interpassiv' als „delegiertes Genießen“ statt: Wir schauen Kochsendungen, anstatt selbst zu kochen; wir schauen Pornos, anstatt selbst Sex zu haben. Verhaeghe spricht mit Mark Fisher sogar von „depressive pleasure“.

Wir mäßigen uns maßlos

Doch das Problem ist nicht nur ein individuelles, psychologisches, es ist auch ein kulturelles und ein politisches. Wenn uns zum Beispiel in der Öffentlichkeit das Rauchen verboten wird, oder auch ansonsten nur unter Darstellung von Lungenkrebs und Raucherbeinen überhaupt erlaubt – als ob irgendein Raucher (und das schließt sicher auch Jugendliche und sogar Kinder mit ein) immer noch nicht wüsste, dass Rauchen schädlich sein kann. Oder wenn „die Universitäten Europas […] in repressive Obermittelschulen [verwandelt werden], die nur noch auf den Prinzipien des Zwangs und der Kontrolle beruhen./ Ist es nicht erstaunlich, was wir uns alles gefallen lassen? Wir lassen uns wie Kinder behandeln - obwohl wir meist sogar energisch protestieren, wenn Kinder so autoritär behandelt werden.“ (Pfaller)

Diese Infantilisierung aber hat für Pfaller bestimmte Gründe. So liegt etwa das Problematische an vielen Genüssen, an den Dingen, für die es sich zu leben lohnt, für Pfaller darin, dass sie eine zwiespältige Struktur aufweisen, es gibt nämlich immer einen Haken: Rauchen und Alkohol sind eben tatsächlich schädlich, ein guter Wein ist zudem teuer, Schokolade macht dick, Sex ist unappetitlich, Träumen ist unvernünftig. Um aus diesen Dingen dennoch einen Genuss ziehen zu können, muss man mit ihrer Zwiespältigkeit umzugehen lernen. Das ist klassischerweise eine Aufgabe des Erwachsenwerdens. Es braucht ein für viele Genüsse notwendiges Maß an Unvernunft, um, wie Pfaller es nennt, auf erwachsene Weise erwachsen sein zu können. Denn einfach nur erwachsen, gewissermaßen kindisch erwachsen sind laut Pfaller vor allem „altkluge Kinder, die zum Beispiel zu ihren Eltern vorwurfsvoll sagen: 'Man soll doch keine Plastikflaschen kaufen.'“

Staatlich verordnete Entwürdigung

Ein drastischeres Beispiel für eine staatlich verordnete Infantilisierung wären etwa die Hartz-IV-Gesetze, die Pfaller nicht erwähnt, die aber in diesem Zusammenhang ebenfalls eine Betrachtung lohnen. Geht man versuchsweise einen Moment lang davon aus, es sei zumindest prinzipiell sinnvoll, einem Arbeitssuchenden seine Bewerbungsbemühungen allein in quantitativer Form vorzuschreiben; oder es sei zumindest prinzipiell nicht die Menschenwürde missachtend, zuerst ein Existenzminimum festzulegen und dieses dann zur instantanen Bestrafung von verhältnismäßigen Lappalien, ohne mit der Wimper zu zucken, einfach wieder zu unterschreiten. Dann bliebe es zuletzt doch immer noch gesunden, nicht straffälligen Erwachsenen unwürdig, ihnen etwa vorzuschreiben, wo sie sich jeden Tag aufzuhalten haben, und das auch noch mit den lächerlichsten Begründungen. Als könnte man nicht einfach einen Nachbarn bitten, nach der Post zu sehen. Als wäre eine solche briefpostfixierte Kommunikation nicht ohnehin vollkommen hinterweltlich. Als würde ein Arbeitgeber, der jemanden unbedingt extrem kurzfristig zum Einstellungsgespräch einladen will (wenn das überhaupt jemals vorkommt), sich auf Briefe verlassen, und als würde nicht sogar das Jobcenter am Tag vor einem Termin zur Erinnerung eine SMS verschicken (wobei das ja auch schon wieder eine Kinderbehandlung ist), woraufhin man zur Not ja immer noch den nächsten Flieger oder Nachtzug oder Anhalter nehmen könnte, wenn es ja immerhin um das sogenannte Existenzminimum geht. Und schließlich, als könnte man als erwachsener Mensch nicht einfach für das, was man selbst sich zu tun entscheidet, am Ende auch die Verantwortung übernehmen. Auch wenn das dann bedeutet, dass einem das Existenzminimum beschnitten wird, weil man einmal ein super wichtiges Vorstellungsgespräch im Callcenter verpasst hat.

Man könnte freilich sagen, die Infantilisierung sei an dieser entwürdigenden Behandlung durch das Jobcenter noch das Harmloseste. Aber in Wirklichkeit ist genau sie das Entmündigenste und Entwürdigenste daran. Denn wenn ich wenigstens wie ein erwachsener, mündiger Sträfling behandelt werde, bin ich auch als mündiger Erwachsener dazu in der Lage, damit umzugehen. Ich kann mich, wie Jean-Paul Sartre es formulierte, auch als Gefangener noch frei fühlen. Doch behandelt wie ein unmündiges Kind, werde ich dieser Möglichkeit zur Freiheit beraubt.

Wofür es sich zu leben lohnt

Aber was könnte eigentlich, fragt man sich, einem Staat an infantilisierten Bürgern gelegen sein? Nun, könnte man zu antworten versuchen, Kinder lassen sich leichter kontrollieren oder gar beherrschen, jedenfalls erwachsene Kinder, die sich zumindest ihren kindlichen Freigeist schon erfolgreich abtrainiert haben. Doch Vorsicht mit einseitiger Systemkritik. Immerhin haben wir dummen Kinder ja die Politiker gewählt, die uns nun auch wie Kinder behandeln, und wir wählen sie immer wieder. Auch Paul Verhaeghe tut übrigens das, was Richard Sennett schon an einigen Vertretern der Frankfurter Schule kritisierte: in erster Linie das System verantwortlich machen, anstatt danach zu fragen, inwiefern es durch unsere emotionalen, moralischen oder kulturellen Verfasstheiten überhaupt erst konstituiert oder zumindest konsolidiert wird, und damit nach den Möglichkeiten, die wir haben, das System zu verändern.

So scheint es jedenfalls, wenn man nur Verhaeghes Artikel im Guardian/Freitag liest. In dem ihm zugrundeliegenden, wesentlich längeren Vortrag allerdings herrscht ein anderer Impetus vor, und zwar eben der auch von Sennett propagierte. Verhaeghe kommt so am Ende auf das von Michel Foucault popularisierte antike Konzept der „Selbstsorge“ zu sprechen, der „Sorge um sich“. Diese hat aber gerade nichts mit narzisstisch-kindlicher Selbstabsorbiertheit zu tun, sondern mit echter, erwachsener Verantwortung für sich als Teil der Gesellschaft. Sie führt schließlich zu derselben Frage zurück, die auch Robert Pfaller aus der antiken Ethik wieder aufnimmt, die Frage nach dem 'guten Leben': wofür es sich – für jeden einzelnen – eigentlich zu leben lohnt. Es geht also um Lebenskunst, die auf der einen Seite überhaupt erst echten Genuss möglich macht, der wie gesagt einer sinnvollen Mäßigung nicht widerspricht; und die auf der anderen Seite auch erst zu wirklichem und wirksamem Protest führen kann, der über kindlich-sinnlosen Trotz hinausgeht. Denn schon allein in der ernsthaften Frage nach dem guten Leben können wir endlich erwachsen und selbstbestimmt sein, ohne uns eine im besten Sinn kindliche Freude am Genuss des Lebens zu versagen.

Dieser Text erscheint demnächst auch bei demokratiEvolution.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Tom Wohlfarth

Politische Theorie und Kultur

Tom Wohlfarth

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