Grandioser Sprachwitz

Stalking Anna Burns lässt in ihrem großartigen Roman „Milchmann“ eine junge Frau die sprachliche Herrschaft über erlittene sexuelle Gewalt übernehmen
„Der Tag, an dem Irgendwer McIrgendwas mir eine Waffe auf die Brust setzte, mich ein Flittchen nannte und drohte, mich zu erschießen, war auch der Tag, an dem der Milchmann starb.“
„Der Tag, an dem Irgendwer McIrgendwas mir eine Waffe auf die Brust setzte, mich ein Flittchen nannte und drohte, mich zu erschießen, war auch der Tag, an dem der Milchmann starb.“

Foto: imago images / Nature Picture Library

Es kommt nicht so häufig vor, dass man länger überlegen muss, wie man ein vorzustellendes Werk thematisch sinnvoll einführen könnte. Der dritte Roman, Milchmann, der 1962 geborenen Nordirin Anna Burns, ist so ein Fall. Denn obwohl sich der 2018 mit dem britischen Booker Prize ausgezeichnete Roman ausführlich mit einem Fall von sexueller Belästigung und den Mechanismen einer multipel misstrauischen und „permanent alarmbereiten Gesellschaft“ vor dem Hintergrund des Nordirlandkonflikts in den späten Siebzigerjahren beschäftigt, ist dieses Buch ein solch bewusst zu überzeitlicher Geltung geformtes Kunstwerk, dass eine schlichte „thematische“ Einführung unpassend wirkt.

Dabei ist es zunächst ein scheinbar einfacher Trick, mit dem Burns ihren politisch-historischen Roman zugleich seiner Raum- und Zeitgebundenheit enthebt. Für ihre Geschichte verzichtet sie nämlich vom fulminanten Beginn an beinahe vollständig auf Personen- und Ortsnamen: „Der Tag, an dem Irgendwer McIrgendwas mir eine Waffe auf die Brust setzte, mich ein Flittchen nannte und drohte, mich zu erschießen, war auch der Tag, an dem der Milchmann starb.“ Die Bezeichnung von Schauplätzen und Figuren allein durch Funktionen und Verwandtschaftsverhältnisse erzeugt dabei einen unverwechselbaren Ton, der der Brutalität der Ereignisse etwas zugleich Distanziertes und Humoristisches verleiht.

Die irgendwann als „Mittelschwester“ (von sieben Schwestern und vier Brüdern!) vorgestellte Ich-Erzählerin beginnt nach ihrem kurzen Ausblick auf das Kommende ihren Bericht damit, wie eines Tages, als sie achtzehn Jahre alt ist, ein ihr unbekannter Mann, der von allen „der Milchmann“ genannt wird, ihr plötzlich beim Joggen nachzustellen beginnt. Seine Annäherungen wirken beiläufig, obwohl sie geplant sein müssen, denn er weiß fast alles über sie: „Du bist doch eine von den Dingsda-Schwestern, oder? Der-und-der war dein Vater. Deine Brüder Dings, Dings, Dings und Dings waren doch im Hurling-Team. Spring rein. Ich nehm dich mit.“

Noch beunruhigender als die übergriffige Freundlichkeit des Mannes sind allerdings die Gerüchte, die unmittelbar nach dieser ersten, kurzen Begegnung in der Gegend die Runde machen. Denn obwohl die Erzählerin nicht daran denkt, ins Auto zu steigen, wird ihr sofort eine Affäre mit dem dreiundzwanzig Jahre älteren Mann angedichtet, der zudem einer der Anführer der staatsfeindlichen, pro-irischen Paramilitärs ist.

Umfassender Gewaltzusammenhang

Auf den folgenden fast 450 Seiten erzählt die Ich-Erzählerin von den Folgen und Verwicklungen dieses gleichwohl ganz auf die Gestalkte zurückfallenden Stalkings. In einer Gesellschaft, in der Frauen sich Männern noch immer unterzuordnen haben und in der sexuelle Belästigung nicht anders als in physischer Form vorstellbar ist.

Während also der Milchmann weiter Mittelschwester auflauert und schließlich sogar ihren „Vielleicht-Freund“, sollte sie ihn nicht verlassen, zu töten droht – dabei aber niemals handgreiflich wird –, ist sie es, der diese angebliche Affäre zur Last gelegt wird. Nicht zuletzt von der eigenen Mutter, der die Tochter irgendwann die ganze Geschichte erzählt – die Mutter glaubt ihr jedoch kein Wort. Es ist dieser der Erzählerin allenthalben und zunehmend entgegenschlagende misstrauische Unglaube, die die Belästigung erst richtig wirkungsvoll macht. Um potenzielle Begegnungen mit dem Milchmann zu vermeiden, beginnt die junge Frau ihre Routinen zu verändern, andere Wege zu nehmen, auf ihr Lauftraining zu verzichten, ihren Freund nicht mehr zu sehen, weil sie ihn schützen will. Dies wirkt jedoch nur wie die Bestätigung der Gerüchte.

Mittelschwesters Bericht wird somit zu einem umfassenden Protokoll der subtilen Mechanismen von sexueller Belästigung und psychischer Gewalt, die umso ungehinderter in einem Umfeld zu funktionieren scheinen, das vollständig von anderen Gewaltformen vereinnahmt ist. So bedarf es am Ende auch physischer Gewalteinwirkung, um die Spirale psychischer Gewalt zu durchbrechen. Der einzige Ausweg aus einem umfassenden Gewaltzusammenhang scheint in einem noch umfassenderen Gewaltzusammenhang zu liegen. Eine bittere Pointe.

Dennoch zeichnet Milchmann zugleich das faszinierende (Selbst)porträt einer eigensinnigen jungen Frau in einer vielfach feindlichen Umgebung, in der konservative, religiöse Tradition und progressive Gegenkultur noch beinah ebenso sehr im Kampf liegen wie „Staatsverweigerer“ und -verteidiger. Einigen Trost inmitten der Schrecklichkeiten bieten vereinzelte Verbündete, etwa der hochanständige „Schwager Drei“, mit dem sich so hochnotkomische Dialoge abspielen wie dieser: „Nicht nötig, sagte ich. Doch, sagte er. Ach, sagte ich. Nichts, ach, sagte er. Ach gut, sagte ich. Ach gut, was?!, sagte er. Ach, wenn du meinst, sagte ich. Ach, natürlich meine ich das. Ach, dann ist es eben so. Ach, sagte er. Ach, sagte ich. Ach, sagte er. Ach, sagte ich. Ach.

Den größten Trost in dieser Welt aber liefert die virtuose ästhetische Form des Romans, die immerhin völlige sprachliche Herrschaft der Erzählerin über die Ereignisse, am augenscheinlichsten in dem distanzierenden Verfremdungseffekt der Namenlosigkeit – von der am Ende bezeichnenderweise einzig der Milchmann ausgenommen werden kann –, aber auch in einem beständigen grandiosen Sprachwitz, der zum Schluss sogar Mittelschwester selbst „beinahe fast lachen“ zu machen vermag.

Info

Milchmann Anna Burns, Übersetzung Anna-Nina Kroll, Tropen Verlag, 448 S., geb., 25€

12 Monate für € 126 statt € 168

zum Geburtstag von F+

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