Den Laden am Laufen halten, das haben schon vor Corona sehr viele hart arbeitende Menschen getan, ohne dass sie dafür Anerkennung oder angemessene Löhne bekommen hätten. Verkannte Leistungsträger:innen nennen sie die Soziolog:innen Nicole Mayer-Ahuja und Oliver Nachtwey. Ihr gleichnamiger Sammelband zeichnet ein düsteres Gesamtbild – das aber einen Funken Hoffnung enthält. Denn die Abwärtsspirale, die seit Helmut Kohls Zeiten besteht, ist politisch gemacht – und kann also politisch gewendet werden.
der Freitag: Frau Mayer-Ahuja, wer genau sind die „verkannten Leistungsträger:innen“?
Nicole Mayer-Ahuja: Die von uns untersuchten Beschäftigten eint, dass ihre Tätigkeiten alle mit der Reproduktion von Arbeitskraft und von
rsuchten Beschäftigten eint, dass ihre Tätigkeiten alle mit der Reproduktion von Arbeitskraft und von sozialen Strukturen zu tun haben. Das sind so diverse Bereiche wie Kindererziehung, Krankenpflege, Paketdienste oder Nahrungsversorgung, die alle trotz ihrer hohen Relevanz für das kapitalistische Wirtschaftssystem und der hohen Arbeitslast der Beschäftigten nicht ausreichend gesellschaftliche und finanzielle Anerkennung erfahren.Wie kann es sein, dass hart arbeitende Menschen in unserer Gesellschaft nicht gewürdigt werden? Hören wir nicht seit Jahrzehnten das Mantra „Leistung muss sich wieder lohnen“?Dieses aus der Zeit von Helmut Kohl stammende Mantra hat tatsächlich dazu geführt, dass sich die Leistung sehr vieler sehr hart arbeitender Menschen immer weniger lohnt. Das hat damit zu tun, dass als Leistungsträger nun nicht mehr Arbeiter:innen und Angestellte galten, sondern Banker und Manager:innen. Für diese Großverdienenden stiegen die Löhne und sanken die Steuern – Unternehmen wurden ohnehin entlastet –, während für die meisten anderen Löhne, soziale Sicherung, Gesundheitsversorgung und auch die gesellschaftliche Anerkennung immer weiter abnahmen. Ihren traurigen Höhepunkt fand diese Entwicklung mit den Arbeitsmarktreformen der frühen 2000er, mit Hartz IV und der Schaffung eines riesigen Niedriglohnsektors.Sie sprechen in diesem Zusammenhang auch explizit von Klassengesellschaft. Die galt doch eigentlich mal als überwunden.Dass man in den Nachkriegsjahrzehnten den Eindruck einer klassenlosen oder, wie Helmut Schelsky sie nannte, „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ bekommen konnte, hing auch mit dem enormen Wirtschaftswachstum zusammen, das die soziale Mobilität und den Wohlstand insgesamt erhöhte. Die ideologische Annahme aber, dass dadurch gesellschaftliche Klassen gar keine Rolle mehr spielen, wurde spätestens in den 80er Jahren widerlegt, als durch stagnierendes Wachstum und steigende soziale Ungleichheit die Gegensätze zwischen Kapital und Arbeit wieder stärker hervortraten. Das wird auch jetzt wieder deutlich, wo nach den Corona-Lockdowns viele Unternehmen längst wieder Gewinne machen, während viele abhängig Beschäftigte noch immer unter den ökonomischen Folgen leiden. Und gerade diese Klasse derjenigen, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, um zu leben, ist heute so groß wie nie.Zugleich wurden in der Pandemie doch viele prekär Beschäftigte plötzlich als „systemrelevant“ erkannt. Für diese Menschen hat sich doch sicher seitdem vieles verbessert, oder?Es gab in der Tat eine starke symbolische Aufwertung von Beschäftigten, die den Laden am Laufen gehalten haben, was etwa im abendlichen Klatschen auf den Balkonen zum Ausdruck kam. Substanziell hat sich aber leider nicht viel verändert, es gab weder Lohnerhöhungen noch bessere Arbeitsbedingungen. Im Gegenteil kam in der Pandemie die Frage auf, wie denn der Zugriff auf systemrelevante Arbeitskraft noch erhöht werden kann – Arbeitszeiten wurden massiv verlängert, Leistungsdruck gesteigert, sogar über Dienstverpflichtungen diskutiert. Ein Lichtblick war im vergangenen Jahr die Tarifrunde im öffentlichen Dienst, die gerade für die unteren Lohngruppen überproportionale Zuwächse gebracht hat.Die von Ihnen untersuchten Branchen unterscheiden sich zum Teil stark, was die Arbeitsverhältnisse und Arbeitnehmerrechte angeht. In welchen Bereichen sieht es besonders düster aus?Besonders schlecht sind die Bedingungen zumeist da, wo weibliche und migrantische Beschäftigung zusammentreffen, etwa bei Saisonarbeit in der Landwirtschaft, Tätigkeiten in der Fleischindustrie oder in Logistikzentren. Das Problem sind hier nicht nur die alarmierend schlechten Löhne oder Arbeitsbelastungen, sondern oftmals auch die prekäre rechtliche Lage der Beschäftigten, etwa der Aufenthaltsstatus bei Geflüchteten, der in vielen Fällen an die Erwerbstätigkeit geknüpft ist. Dadurch steigt der Druck, auch schlechte Arbeitsverhältnisse zu akzeptieren, sowie das Risiko im Falle von Arbeitskämpfen.Placeholder infobox-1Was lässt sich dagegen tun?Im Grunde hilft hier nur politische Regulierung. Das war zuletzt in der Fleischindustrie zu beobachten, wo nach jahrelangen Forderungen nun endlich gegen Leiharbeit und Werkverträge vorgegangen wurde. Zwar hatte das in der Pandemie zynischerweise wohl eher mit dem Gesundheitsschutz der heimischen Bevölkerung zu tun – wie Armin Laschet als NRW-Ministerpräsident freimütig zugegeben hat –, wird aber auch für die Leih- und Wanderarbeitenden einiges verbessern. Politische Regulierung kommt aber nicht von selbst. Deshalb ist gewerkschaftliche Organisierung sehr wichtig, die aber in vielen Branchen, etwa Reinigung und Gebäudesicherung, schwierig ist, weil viele Beschäftigte kaum Kontakt untereinander haben. Hoffnung machen hier Fortschritte bei den Lieferdiensten und Flugbegleiter:innen.Was läuft dort besser?Eine wichtige Grundlage für erfolgreiche Arbeitskämpfe ist immer eine geteilte Arbeits- und Lebensrealität. Als etwa im vergangenen Pandemiewinter die Lieferdienste boomten, wurden dort sehr viele Menschen zu sehr schlechten Bedingungen eingestellt. Diese Verhältnisse und die mangelnde Verantwortung der Unternehmen haben Empörung und Solidarität unter den Beschäftigten hervorgerufen, die sich über digitale Plattformen gut vernetzen konnten. Außerdem gab es hier eine sehr gute Pressearbeit. Oder ein anderes Beispiel: Schon vor der Pandemie begannen im Pflegebereich der Berliner Charité erfreuliche Entwicklungen. Ein Problem für Arbeitskämpfe im sozialen Sektor besteht ja generell darin, dass die Beschäftigten fürchten, damit eher die zu versorgenden Menschen zu treffen als die Unternehmen. An der Charité ist es gelungen, dieses Dilemma aufzulösen und die Interessen der Beschäftigten mit denen der Patienten zu verbinden: „Mehr von uns ist besser für alle“. Diese Einsicht hat sich durch die erhöhte Aufmerksamkeit während der Pandemie zusätzlich verbreitet.In Ihrem Buch heißt es, die schlechten Arbeitsbedingungen der Beschäftigten in der Ernährungsindustrie sorgten insgesamt für niedrige Lebensmittelpreise. Profitieren wir also nicht alle davon?Da gibt es in der Tat einen systemischen Zusammenhang. Die niedrigen Lebenshaltungskosten sind in Deutschland ja vor allem dafür nötig, um hier den größten Niedriglohnsektor Europas aufrechtzuerhalten. Profitieren dürften davon am Ende aber eher die Unternehmen, während die prekären Beschäftigten nur gegeneinander ausgespielt werden. Stattdessen käme es darauf an, in allen Branchen existenzsichernde Löhne zu zahlen, dann bräuchte es auch keine Billigprodukte mehr. Statt der Abwärtsspirale der vergangenen Jahre könnte es dann wieder eine Aufwärtsspirale geben.Haben wir nicht doch auch als Kundinnen und Konsumenten eine Mitverantwortung?Tatsächlich ist es teilweise so, dass sich Arbeitende auf Kosten von anderen Arbeitenden über Wasser halten. Nehmen wir etwa den Bereich der Reinigungskräfte in privaten Haushalten: Hier könnte jeder Kunde selbst dafür sorgen, faire Löhne zu zahlen, reguläre Beschäftigung und gute Arbeitsbedingungen zu schaffen. Gleichzeitig wächst dieser Bereich ja vor allem deshalb, weil immer mehr Menschen in besser bezahlten Berufen ebenfalls unter immer stärkerem Leistungsdruck mit immer längeren und flexibleren Arbeitszeiten stehen. Das gilt zunehmend auch für Frauen, die sonst meist den Haushalt erledigen, diese Aufgaben aber nun an andere, oft migrantische Frauen auslagern, die auch schlechte Bedingungen akzeptieren müssen. Damit wird der Druck dann unter verschiedenen Gruppen von Beschäftigten weitergegeben anstatt nach oben, an Politik und Unternehmen, die eigentlich in der Verantwortung stehen, lebenswerte Arbeitsverhältnisse herzustellen.Oft hört man: Wenn in der migrantisch geprägten häuslichen Pflege flächendeckend der Mindestlohn gezahlt werden müsste, würde der Sektor zusammenbrechen, weil sich das niemand mehr leisten könnte.Ähnlich argumentieren aktuell die Unternehmerverbände im Pflegebereich. Rainer Brüderle vom bpa, dem Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste, meint, die Vorschrift, dass öffentliche Aufträge nur an Unternehmen mit Tariflöhnen gehen sollen, würde für die Branche das Aus bedeuten. Es ist aber ein Unding, dass Unternehmen seit Jahren Löhne und Arbeitsbedingungen verschlechtern und eine tarifliche Regulierung ablehnen. Was wir hier eigentlich brauchen, ist eine Reform des Pflegesektors, die sicherstellt, dass die immensen materiellen Ressourcen, die wir alle jeden Monat den Kassen zur Verfügung stellen, auch wirklich bei den Beschäftigten und den zu Versorgenden ankommen, anstatt in einem System von zunehmendem Profitzwang für steigende Unternehmensgewinne zu sorgen.