Als vor bald einem Jahr ein winziger Reproduktionskörper names Sars-CoV-2 die Welt in die zumindest vordergründig größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg stürzte, war es kaum verwunderlich, dass einer der weltweit (re)produktivsten Intellektuellen in geradezu pandemischer Geschwindigkeit auch einer der Ersten war, der bereits im Mai ein ganzes Buch zum Thema vorlegte und den gespenstischen Erreger sogleich im Sinne seines eigenen Lieblingsgespenstes deutete. Gemeint sind natürlich Slavoj Žižek und der Kommunismus.
Žižeks Pandemie-Büchlein vertrat unter anderem die These, dass nur eine Form von „Katastrophen-Kommunismus“ die Welt vor dem Abgleiten in die Barbarei bewahren könne. Ein „geistreicher Schnellschuss“, urteilte die taz, das verzögerte Erscheinen der deutschen Übersetzung im Herbst machte das freilich nicht besser. Und während hierzulande auch Teil zwei noch auf sich warten lässt, ist es umso erfreulicher, dass ein neuer Aufsatzband von Žižek auf Deutsch erscheint, der sich der Idee eines „neuen Kommunismus“ eingehend widmet – auch wenn es dabei nur ganz am Rande um Corona geht. Dennoch lässt diese Krise viele Probleme virulent(er) werden, die schon vorher bestanden und durch die neue Krise keineswegs verschwinden: etwa Ungleichheit, Menschenfeindlichkeit, Klimawandel. Insofern liest man mit Gewinn, wenn Žižek hier die wichtigsten (und einige abseitige) Themen der vergangenen Jahre aufrollt: vom Rechts- wie Linkspopulismus über das Konsensvermögen von Sexrobotern bis zum konservativen kanadischen Kämpfer gegen politische Korrektheit und „Kulturmarxismus“, Jordan Peterson.
Gleich der erste Text, zum zombiehaft-ambivalenten Erbe Karl Marx’, mündet in ein Thema, das vielleicht auch das zentrale der Pandemie ist: die Frage nach der Macht des Staates. Sei Marx noch von deren Verfall ausgegangen – worin er bis heute linke wie liberale Nachfolger hat –, bedeutet Žižeks Vorstellung vom Kommunismus eine starke staatliche Autorität (die sich freilich durch demokratische Kontrolle vom totalitären Kommunismus unterscheiden soll). Und war diese Autorität nicht eines der auffälligsten Comebacks des vergangenen Corona-Jahrs? Unabhängig davon, ob diese Autorität ihrer Verantwortung gerecht wurde, ist zumindest die Aufmerksamkeit dafür enorm gewachsen, dass unsere viel gelobten liberalen Freiheiten sämtlich auf einer dichten staatlich garantierten Infrastruktur an Gemeingütern ruhen, nicht zuletzt etwa der Gesundheitsversorgung. Man könnte hier geradezu von einem Kommunismus des Alltagslebens sprechen.
Vorbilder Greta – und Corona
Was dessen Florieren allerdings im Wege steht, ist der leidige Kampf zwischen Identitäts- und Klassenpolitik, der sich durch fast alle Texte des Bandes zieht. Žižek dazu bündig: „Die beste konzise Definition von Faschismus lautet: die Ausweitung von Identitätspolitik auf den Bereich des Klassenkampfs.“ Denn dadurch werden die Klassengegensätze naturalisiert und auf Dauer gestellt.
Ein westliches Proletariat entdeckt gegenüber subproletarischen Migranten seine (relativ privilegierte) weiße Identität; auf der anderen Seite kennt ein politisch korrekter Antirassismus keinen anderen Feind mehr als eben diese weiße Arbeiterklasse. So verfehlen beide den „Hauptwiderspruch“ des Kampfes gegen die eigentlich herrschende Klasse. Ähnlich erfolglos muss ein linker Populismus bleiben, wie Žižek messerscharf an Aufstieg und Fall der griechischen Partei Syriza analysiert.
Bleiben als Vorbilder für echte radikale Politik noch Greta Thunberg und Daenerys Targaryen, die Drachenkönigin aus der Fantasy-Reihe Game of Thrones. Und natürlich das Coronavirus, dem der Schlusstext gilt. Trotz bester Lektüre sind wir also doch auch gespannt auf das neue Pandemie-Buch.
Info
Ein Linker wagt sich aus der Deckung. Für einen neuen Kommunismus Slavoj Žižek Michael Adrian, Frank Born, Karen Genschow (Übers.), Ullstein 2021, 352 S., 22,99 €
Pandemie! COVID-19 erschüttert die Welt Slavoj Žižek Aaron Zielinski (Übers.), Passagen 2020, 112 S., 15,30 €. Der zweite Band ist soeben auf Englisch bei Polity erschienen und wird im Mai auf Deutsch veröffentlicht
Kommentare 31
ich bekenne: ich bin nicht gespannt.
und würde mir eine kritischere sichtung zizekscher
geistes-blitze wünschen.
über die zweischneidigkeit von
--->"identitätspolitik" informiert wikipedia/zum einstieg).
Das war der Geistesblitz des Tages. Einen Wikipediaartikel auf eine Stufe mit einem Philosophiebuch zu stellen muss Ihnen erst einmal jemand nachmachen. Sie haben meinen Tagesbeginn durch ein intensives Lachen verschönert.
ja, man sollte alle zizek-bücher kondensieren!
vorbild: der "roman-kompress", gezeichnet von chlodwig poth("pardon").
Langsam kommen mir Zweifel, ob Sie jemals in ein Originalwerk eines Philosophen schauen. Geben Sie sich etwa immer mit Sekundär und Tertiärliteratur zufrieden? Das wäre armseelig.
bei zizek handelt es sich doch eher um einen journalistischen viel-schreiber,
der höhere geltung beansprucht.
Ich beuge mich Ihrer unendlichen Weisheit, die schon an die des Dalai Lama (ozeangleicher Lehrer) heranreicht. Auch erzeichnet sich durch das Absondern von Floskeln aus.
Auf einige Bücher trifft das zu, wie in der Besprechung bzgl. des ersten Pandemiebuchs angedeutet. Für viele der Aufsätze im Kommunismusband gilt das allerdings nicht. Den Unterschied kann man freilich nur dann feststellen, wenn man in die Bücher selbst hineinsieht.
Ich LIEBE diesen Bärtigen!
Philosophie praxisbezogen, Marx & Lenin stets mitgedacht respektive in die dialektische Weiterentwicklung einbezogen, und voll auf der Höhe der Zeit.
Sicher, es gibt noch ein paar andere – etwa aus der Liga Naomi Klein. Aber ohne Žižek würde linke Theoriebildung heute recht ärmlich daherkommen.
die liebe ist eine himmels-macht!
Žižek ist wirklich gut. Vor allem sein Mut zum Wiederspruch- eine unter linken Denkern eher seltene Eigenschaft- macht ihn auch als Mensch sympathisch. Als Gegenstück zu Slavoj Žižek würde ich aktuell Peter Sloterdijk sehen. Wobei der auch nicht immer zu verachten ist. Was erwähnten Mut zum Wiederspruch angeht: Žižek vs. Peterson, das war ein Meisterstück!
"... ohne Žižek würde linke Theoriebildung heute recht ärmlich daherkommen"
keine sorge, sie kommt kommt auch MIT zizek "recht ärmlich" daher. allzumindest in relation zu ihren nach wie vor oft irre überzogenen geltungsansprüchen/reichweiten/erklärungstiefen, - um vom ständigen scheitern der l. th. im empirischen noch gar nicht zu reden.
»Als Gegenstück zu Slavoj Žižek würde ich aktuell Peter Sloterdijk sehen. Wobei der auch nicht immer zu verachten ist.«
Seine beste Zeit hatte S. meines Erachtens im Ashram in Poona.
nich möglich ! Sie waren auch in poona?
nicht möglich – dachte, die Setzung von Subjekt, Verb und Objekt ließen keinerlei Raum für Zweideutigkeit ;-).
Ich habe noch kein streng theoretisches Werk von Žižek gelesen, ich weiß auch gar nicht, ob es das gibt. Aber als Populisierer linker Ideen ist er viel wichtiger, besseres haben wir kaum anzubieten. Also, gut, daß es ihn gibt.
Slavoj Žižek ist der Wolfgang Thierse der Philosophie.
Tatsächlich: Sloterdijk war in Poona! Das habe ich gar nicht gewusst! Ich habe mal in einer bekannten Werbeagentur gearbeitet, oben am sog. Züriberg, einer sehr noblen und sehr teuren Gegend. In einer Villa nebenan waren die Baghwans einquartiert, und haben auf der Terasse jeden Tag in wallenden, hellen Gewändern ihre Rituale veranstaltet. Inhaltlich muss ich dem Artikel übrigens weitgehend zustimmen (Käse & Sex, haha), item: Sloterdijk hat den Zenith mit „Zorn und Zeit“ erreicht, schätze ich. Danach kamen eigentlich nur noch Eitelkeiten. Diese sind Žižek wiederum vollkommen fremd. Ein heiterer Mann, zweifellos. Žižek ist anschlussfähig und wird auch sofort verstanden. Bei S. ist das nicht immer der Fall. Oder immer seltener. Oder kaum mehr.
??
für nicht dabei-gewesene gibts bessere rückschauen als die "welt"-sicht:
--->tv-doku: "bhagwan - die deutschen und der guru".
das genuin rechte identitätstamtam ist das trojanische pferd im lager der linken, auf das man sich nie, nie hätte auch nur ansatzweise einlassen dürfen. identität sollte als privat und im rahmen einer humanen gesetzgebung damit einfach als gegeben betrachtet werden. wenn die fokussierung auf den eigentlichen gegner - großkapital und hoch(mut)finanz - in einem pseudoakademischen diskurs über einzelbefindlichkeiten, womöglich noch primär sexueller natur, die wirklich keine sau mehr interessieren sollte, dermaßen zerlegt werden kann, braucht links keine feinde mehr. die nachhaltige selbstbesiegung ist damit vorprogrammiert und auch konsequent.
Die ist gut. Noch einen Zacken besser ist die Doku-Serie Wild Wild Country. Thema: Das Experiment in Oregon, außer Rand und Band geratene Rednecks und die kriminelle Energie einer gewissen Lady an Baghwans Seite. Acht Folgen echtes Showdown-Feeling; da kommt dann auch der True-Crime-Fan auf seine Kosten.
Aber eigentlich diskutieren wir hier nicht über Zorba-Abhängschuppen, sondern über Žižek.
ach, ich streite doch nicht um kaisers/zizeks bart.
es geht um popularisierungen und ihren kern.
oda?
na ja, es ist wohl kein geheimnis:
ich preferiere das konzise.
vor dem mäandernden.
Kernig, kernig.
Manchmal lohnt sich das Versäumen.
Guter Hinweis darauf, was Slavoj Žižek gerade wieder umtreibt, Herr Wohlfarth.
Die feine Ironie liefern Sie gratis hinzu, geht es um den <<weltweit (re)produktivsten Intellektuellen>>. - Angesichts der vielen bildbewegten Clipdokumente, Z. meist enragé, könnte sich schon einmal die Frage stellen, ob der Philosoph es mittlerweile schaffte, sich zumindest virtuell zu klonen oder ob er schon, für eine gewisse Gruppe urban gebildeter und sozialisierter Menschen, völlig viral ist.
Dass es nur am Rande um Corona geht, soll die geistige und reelle Situation des Kommunismus und Sozialismus in der Zeit erörtert werden, ist ein sehr erfreulicher Lichtblick. Sich an ein katastrophales Naturereignis zu binden, bei diesen Fragen, hieße schon zu verlieren, bei der Analyse und erst recht in der Praxis.
Schließlich sind die Zeiten vorbei, zu denen der Kommunismus nicht nur das sich am schnellsten verbreitende virale politische Denkmodell war und jeder wusste, was ein Proletarier ist und was den Bourgois ausmachte.
Ohne Staat, das ist tatsächlich eine Wiederauffrischungsimpfung, geht wenig, in der Pandemie, außer sie abzuwettern oder eben zu sterben.
Nun hat aber ausgerechnet ein Staat, China, bessere Erfolge erzielt, der einen extrem starken und umfassend kontrollierenden Staat, mit entsprechenden chronischen Missachtungen der Menschen- und Bürgerrechte, neben einer elitengestützten Hinwendung zum oligarchisch strukturierten und konsumorientierten Kapitalismus, ausentwickelte. - Prompt diskutieren wir, ob ein bisschen Autoritarismus, ein bisschen Diktatur und mehr Illiberalität in der sich immer irgendwie demokratischen Staatsstruktur nicht ein Heilsweg sei.
Tatsächlich ist die Diskussion um Klassenkampf und oder Identitätspolitik für Kommunisten und Sozialisten jeder Prägung leidig und führt zu Leiden an der chronischen Erfolglosigkeit.
Erfahrungen aus den Vereinigten Staaten oder Brasilien müssten lehren, dass die alten Vokabeln, wie Proletariat und Klassenkampf und auch jene neueren von der Identität, die Subjekte der poltischen und gesellschaftlichen Ansprache eher verschreckte.
Mit keiner These ließen sich in beiden Ländern die ärmeren BürgerInnen und die Benachteiligten außerhalb der urbanen Wissengesellschaften leichter ansprechen und zu mehrheitlich rechtskonservativen Wahlentscheidungen bringen, als mit dem (Wahl-)Versprechen, vor allem mit den Resten des "korrupten" Kommunismus, Sozialismus und Syndikalismus aufzuräumen und die Identitätspolitiken zu beenden, selbst wenn diese gar nicht an der Macht, marginalisiert oder nicht existent waren.
Es stimmt doch nachdenklich, dass erschreckend viele proletarische Brasilianer und vor allem auch Brasilanerinnen, für jene Parteien stimmten, die in den sozialen Leistungen, wie Bolsa familia, Casa familia und praktisch zinslose Kredite für Besitzlose, im Hochzinsland Brasilien, die Millionen aus der Armut brachten, Teufelszeug sahen.
In den USA rettete nun ein älterer, zentristisch und kapitalistisch orientierter Demokrat die Gesellschaft vorerst vor dem Clash und Crash.
Wenn sich Slavoj Žižek, entlang des politischen Schicksals der Syriza, Gedanken über das Scheitern des Linkspopulismus macht, bleibt wohl am Ende immer noch die Frage, ob sie an zuviel oder zu wenig Populismus gescheitert ist. In Griechenland populär, wäre die Totalverweigerung gegenüber der "Troika" gewesen.
Beste Grüße und nur weiter
Christoph Leusch
Er erkennt Trends erst, wenn sie schon vorbei sind.
Vielen Dank für den ausführlichen Kommentar!Für Žižek ist das Scheitern des Linkspopulismus zwingend, egal wie er sich entscheidet, weil er das System des Kapitalismus nicht radikal genug infrage stellt/stellen kann. Wäre Syriza dem "Oxi" des Referendums gefolgt, wäre es zum Grexit gekommen und Griechenland im völligen Ausnahmezustand gelandet - Syriza wäre vermutlich auch dafür bestraft worden, und das Kapital hätte sowieso in jedem Fall gewonnen.Wirklich befriedigend ist diese Antwort aber natürlich nicht, weil sie nicht wirklich erklärt, wie genau eine radikale Antwort in diesem Fall hätte aussehen können (außer zu sagen, dass jede Antwort hätte scheitern müssen).
Ich denke, Žižek leistet in »Ein Linker wagt sich aus der Deckung«, was er auch bereits in seinen vorigen Büchern getan hat: eine nichtrevisionistische Kritik der realsozialistischen Historie und der neoliberalen Gegenwart. Anders als vergleichbare Kritiker – etwa Georg Seeßlen – zieht er sich nicht auf eine vage Kritik des kulturalistischen Überbaus zurück, sondern seziert in Klartextsprache die Fehlstellen aktueller linker Theoriebildung.
Dass Žižek von Fehlern und Irrtümern redet, wo linksliberalen Moralist(inn)en nur der Kamm schwellen will, macht ihn in ebenjenen Kreisen nicht beliebter. Erfrischend hingegen sind seine Überlegungen für all diejenigen, die ernsthaft einen Weg heraus aus der kapitalistischen Krise suchen. Ebendas macht seine Widersprüchlichkeit aus. Fazit: Die Linke wird sich mit diesem Denker weiter schwer tun – eben WEIL er so unmodisch, so »anti-identitätspolitisch« ist. Und weil auch Zweifelnde ahnen, dass die zugrundeliegenden Konzepte von Gramsci, richtig angewandt, durchaus mehr sein können als Schriften aus einer fernen Vergangenheit.
Mit anderen Worten: ein Autor, ein Philosoph, der es ernst meint mit der Utopie des Kommunismus.
Zum einen wundert mich das abrupte Ende des Textes - sind die Buchstaben aus gegangen? -, zum anderen halte ich den "Identitäts" Begriff für überhöht. Ich sehe bei den verschiedenen Protagonisten weniger 'Identität', als viel mehr die verzweifelte Suche nach eben dieser. Ich mag den Begriff 'Befindlichkeit" in diesem Zusammenhang lieber, denn "wegen 'meines' Befindens, befinde 'ich' das es 'so oder so' zu sein hat". Der Protagonist hat nur leider keine Ahnung wer "ich" ist. Das spielt 'zum Glück' keine Rolle, denn es (das 'ich'), muss ja 'relevant' sein - es ist ja 'meins'. Und so drehen die Leute (frei) sich im Kreis, ob der 'versäumisse' in ihrer Vergangenheit. Wer sich mit über 30 noch mit dem Thema beschäftigt, sucht auch 'Goldtöpfchen am Ende des Regenbogens'.