Jamaika Science Fiction

Sondierungsende Aus der Politik ist derzeit keine Versöhnung von Ökonomie und Ökologie, gelb und grün, zu erwarten. Kann die Theorie weiterhelfen oder hilft nur Science Fiction?

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Das Scheitern der Sondierungsgespräche für eine Jamaika-Koalition aus Union, FDP und Grünen, oder vielmehr der einseitige Abbruch dieser Gespräche durch die FDP mag viele verschiedene Ursachen haben, auch wenn für die übrigen Sondierer bis zum Schluss eine Einigung „zum Greifen nah“ gewesen sei, wie etwa Horst Seehofer unmittelbar nach dem Ende der Gespräche meinte. Einen dankbaren Anlass für deren Abbruch bot Christian Lindner allerdings der vermeintliche Konflikt, der von Anfang an auch als naheliegendste Komplikation einer Jamaikasondierung gelten durfte: der ideelle Konflikt zwischen der FDP und den Grünen.

Mit einiger Vereinfachung lässt er sich etwa auf folgende griffige Gegensatzpaare bringen: Wirtschaft vs. Umwelt, Wachstum vs. Bewahrung, technologischer Fortschritt vs. nachhaltige Entwicklung, aber vielleicht auch Beschleunigung vs. Entschleunigung. Dieser Konflikt der politischen Praxis hat ein Pendant in der politischen Theorie, namentlich zwischen zwei Denkrichtungen, die in den letzten Jahren vermehrt an Aufmerksamkeit gewonnen haben: Akzelerationismus und Degrowth. Jener eine technophile Beschleunigungsphilosophie, diese eine Bewegung gegen das vorherrschende Wachstumsparadigma.

Die Selbstzerstörung des Kapitalismus beschleunigen

Der Akzelerationismus hat zwar einen marxistischen Ursprung, existiert aber auch in einer neoliberalen Spielart. Das ist schlüssiger, als es klingt, spielte Marx doch mit der Idee, dass sich die Selbstzerstörung des Kapitalismus beschleunigen ließe, wenn man nur auch ihn selbst mitsamt seinen entfremdenden Tendenzen befeuere. Daher etwa Marx‘ abgründiges Lob des Freihandels. Über den Umweg des marxistisch inspirierten Poststrukturalismus, etwa Deleuze' und Guattaris Empfehlung, „sich in die Bewegung [...] des Marktes zu stürzen“, oder Lyotards Aufforderung, die Entfremdung durch das Kapital gar zu genießen, ging in der Idee der Beschleunigung irgendwann dann die Vision der (Selbst-)Zerstörung des Kapitalismus verloren.

Der Cyberpunk fand im Technokapitalismus eher nur Entfremdung ohne Genuss. Und Nick Land schließlich begründete mit seiner „cyberpositiven“ Bejahung der Dynamik des Kapitals einen eher rechten Akzelerationismus. Erst nach der Finanzkrise von 2008 betonte Mark Fisher die Notwendigkeit eines neuen linken Akzelerationismus als Gegenmodell zu dem, was er den “kapitalistischen Realismus” der Gegenwart nannte, den man gleichwohl erst einmal anerkennen müsse, um ihn wirksam bekämpfen und überwinden zu können.

So schienen dann Nick Srnicek und Alex Williams in ihrem Manifest für eine akzelerationische Politik von 2013 fast weniger den neoliberalen Kapitalismus zum Hauptfeind zu erklären als vielmehr einen Großteil der antikapitalistischen, linken Bewegungen. Denn deren “folkloristische” Ansätze von lokalem Aktivismus und rein horizontalen Organisationsstrukturen seien für die globale Hegemonie des Neoliberalismus völlig ungefährlich. Sie könnten allenfalls kleine, geduldete Inseln einer fiktiven Gegenwelt innerhalb des kapitalistischen Systems erschaffen, es dadurch besiegen und überwinden könnten sie nicht. Dazu bedürfe es einer hierarchisch organisierten, global agierenden Gegen-Hegemonie, die technologisch und machtpolitisch mit dem Kapitalismus nicht nur mithalten, sondern ihn schließlich links überholen könne. So müsse die fortschreitende Automatisierung der Arbeit nicht etwa aufgehalten, sondern beschleunigt und antikapitalistisch vereinnahmt werden, um die Arbeiter und Angestellten umso schneller vom entfremdenden Lohnarbeitszwang zu befreien.

Als wichtigste Gründe für die Notwendigkeit einer solchen Überwindung des neoliberalen Kapitalismus nennt das Manifest allerdings den Klimawandel und die globale Ressourcenerschöpfung. Dass Srnicek und Williams aber auch in ihrem anschließenden Buch Die Erfindung der Zukunft dem Akzelerationismus nicht wirklich ein ausgereiftes ökologisches Profil zu geben imstande sind, offenbart das Problem einer übertriebenen Frontstellung linker Bewegungen untereinander. Deren Vernetzung in einer “Ökologie der Organisationen” fordern Srnicek und Williams zwar auch, tragen aber gleichzeitig eher mehr dazu bei, eine solche zu erschweren.

Das Ende des Wachstums

Denn es gibt seit den 1970er Jahren auch eine andere linke Bewegung, die die zunehmende Ressourcenknappheit und später auch den Klimawandel ins Zentrum gestellt hat. 1972, im selben Jahr, in dem Deleuze und Guattaris Anti-Ödipus erschien, kam auch der berühmte Bericht des Club of Rome, Die Grenzen des Wachstums, heraus, und benutzte der französische Intellektuelle André Gorz zum ersten Mal das Wort „degrowth“ („décroissance“). Doch mit dem Ende der Ölkrise und dem Aufstieg des Neoliberalismus trat auch diese Bewegung vorübergehend in den Hintergrund, um sich dann seit den 2000ern weltweit zu verbreiten.

Seitdem setzt sie sich für eine Abkehr vom zentralen kapitalistischen Paradigma des Wirtschaftswachstum im Maßstab des BIP ein und versucht, Alternativvorschläge wie „green growth“ oder „sustainable development“ als illusionär zu entlarven. Die Degrowther würden hier auch den Akzelerationisten eine gewisse Unvereinbarkeit ihrer zentralen Ziele des Klima- und Ressourcenschutzes mit der Fokussierung auf die Forderung nach beschleunigter vollständiger Automatisierung attestieren. Denn völlig ungeklärt sei hier die Frage, ob erhöhte maschinelle Effizienz auch wirklich zu niedrigerem Energieverbrauch führen würde, oder ob man am Ende nicht doch der Versuchung erliegen würde, die eingesparte Energie anderweitig zu vernutzen. Ganz abgesehen von der unbeantworteten Frage, ob sich der Energie- und Ressourcenverbrauch für die vollständige Automatisierung überhaupt auf erneuerbarem Wege begleichen ließe.

Doch der Degrowther, der selbst sehr viel Wert darauf legt, dass “degrowth” ein bewusst provokatives Konzept sei, übersieht hier eines. Die etwas simplizistisch anmutende Beschränkung der Akzelerationisten auf die Forderung nach Automatisierung und Grundeinkommen ist selbst eine strategische Provokation. Sie will in ihrer prägnanten Simplizität zunächst einmal vor allem den gesellschaftlichen Common Sense verändern, mit dem öffentlich über diese Fragen nachgedacht wird. Und wenn sich dann die öffentliche Meinung erst einmal von der herrschenden Arbeitsethik und dem Paradigma der Vollbeschäftigung gelöst hat (Srnicek und Williams fordern hier die schöne “Vollunbeschäftigung”), kann über die Detailfragen schon wesentlich freier bzw. überhaupt erst ernsthaft geredet werden.

Bei aller Konkretheit und Vielfältigkeit der Ansätze für eine andere Lebensweise, die in der Tat einer Revolution gleichkäme, fehlt der Degrowth-Bewegung ein strategisches Konzept, wie diese Revolution machtpolitisch befördert werden könnte. Der Akzelerationismus von Srnicek und Williams dagegen konzentriert sich zumeist so sehr auf die Profilierung seiner Macht- und Hegemonietheorie in Abgrenzung von anderen Ansätzen, dass er deren Bedeutung für den Aufbau einer neuen Ordnung nach dem Ende der alten sträflich vernachlässigt.

Sicher gibt es unter den Umwelt-Aktivisten einige, die aus guten Gründen mit Technologie, mit Smartphones, Facebook und Machtpolitik rein gar nichts zu tun haben wollen. Umgekehrt kann man es einem technophilen Akzelerationisten vielleicht nicht verdenken, wenn er der ausschließlichen Begeisterung für Biolandwirtschaft und Regionalismus eine gewisse folkloristische Spießigkeit attestiert. Daraus muss aber doch nicht folgen, dass man die Bedeutung des jeweils anderen für den Aufbau einer besseren Zukunft leugnet. In Zeiten, da großkapitalistische Autokraten den Klimawandel und die Dekarbonisierung infrage stellen, darf sich die Linke nicht unnötig über Detailfragen spalten, sondern sollte sich zunächst einmal auf die Verwirklichung der allen ihren Bewegungen gemeinsamen Ziele konzentrieren.

Zukunft wird aus Utopie gemacht

Wenn aber schon die Theorie – und zwar selbst auf nur einer Seite des politischen Spektrums – so uneins ist, wird es leider kaum verwundern, wenn auch die politische Praxis noch keine Hoffnungen auf eine baldige Versöhnung von Technologie und Umwelt, Ökonomie und Ökologie aufkommen lässt. Und das, obwohl etwa gerade die Grünen als ökologische Partei mit ihrem Wahlprogramm „Zukunft wird aus Mut gemacht“ zumindest im Titel am ehesten eine utopische (und in der Betonung der Zukunft sogar fast schon akzelerationistische) Richtung eingeschlagen haben. Doch inhaltlich bedeutet diese Zukunft letztlich doch vor allem eine Bewahrung des Bestehenden. Und was die Ökologie angeht, ist selbst dieser Bewahrungswille nur halbherzig. Denn auch die Grünen wollen ebenso wenig aus dem allgemeinen Wachstumskonsens ausbrechen wie irgendeine andere Partei. Hier geht es nicht um De-, sondern eher um das Zauberparadoxon „Green Growth“. Und selbst dessen wichtigste Pfeiler, Kohleausstieg und Abschied vom Verbrennungsmotor, waren auf dem Weg in die Regierung ja bereits lange vor dem Ende der Sondierungsgespräche auf der Strecke geblieben.

Man musste (oder wollte?) ja schließlich demjenigen Koalitionspartner entgegenkommen, der ansonsten noch am ehesten zumindest für einen rechten Akzelerationismus infrage käme: der FDP. Denn in deren Wahlprogramm ist Umwelt- und Klimaschutz eher klein geschrieben. Dafür schreibt sie sich groß Digitalisierung auf die Fahnen, vor allem in der Bildung, und fordert ein Digitalministerium. Von dem Langziel einer vollständigen Automatisierung ist das freilich noch weit entfernt. Und auch dass die aktuelle FDP deren soziale Folgen auffangen würde, darf man wohl ohnehin nicht annehmen.

Also hätte doch gerade eine grün-gelbe Koalition sinnvoll sein können. Aber eben nicht, wenn beide Parteien am Ende ihre progressivsten Ideen aufgeben. Und natürlich darf man nicht vergessen, dass die beiden ohnehin nur (potenzielle) Juniorpartner gewesen wären. Und auch (oder gerade) eine geschwächte zwölfjährige Regierungsunion wird in einem Deutschland, in dem zumindest sie „gut und gerne“ lebt, eher nicht auf große Veränderungen drängen. Eine progressiv-ökologische, sozial-liberale Politik in Deutschland derzeit also – leider eher utopisch.

Kommen wir nun also lieber wieder auf die Gefilde zu sprechen, in denen die Utopie uneingeschränkter gedeihen kann. Das gilt zwar auch für die (politische) Theorie. Eine ihr fehlende Verbindung von technologisch-ökonomischer und ökologischer Imagination findet sich aber vielleicht am ehesten in dem Genre, das vor allem den Akzelerationismus der Gegenwart maßgeblich geprägt hat, aber auch für die Degrowth-Bewegung nicht ganz unbedeutend ist: die Science Fiction.

Sind Maschinen die besseren Menschen?

Die Science Fiction eignet sich generell für Utopien wie Dystopien gleichermaßen. Sie ist das Genre der Imagination, im Guten wie im Schlechten. Antrieb und Ziel dieser Imagination sind – wie der Name verrät – Wissenschaft und Technologie. Sie sind es, die die menschliche Zivilisation begründet und vorangebracht haben, und die sie noch viel weiter voran-, aber eben auch über sich hinausbringen können. Dass sich Wissenschaft und Technologie gegen ihre Schöpfer, die Menschheit, richten könnten, ist eine der beliebtesten Denkfiguren der Science Fiction, von der Maschinenapokalypse bis zum Angriff der Klonkrieger oder der planetaren Klimakatastrophe.

Dass die Maschinen vielleicht die besseren Menschen sein könnten, hat schon ein Gründungswerk des neueren Science-Fiction-Kinos implizit deutlich gemacht: Ridley Scotts Blade Runner von 1982 (basierend auf einem Philip K. Dick-Roman von 1968). Nach einem zunächst erbitterten Kampf rettet am Ende des Films der Replikant Roy dem Blade Runner Deckard das Leben, bevor er selbst durch seine geplante Obsoleszenz stirbt. Menschlichkeit wird zur exemplarischen Eigenschaft der Maschine. Die späte Fortsetzung dieses Films, der aktuelle Blade Runner 2049 von Denis Villeneuve, macht diese Implikation explizit: Dass die Maschinen (Replikanten) menschlicher als die Menschen seien, ist für die Armee der ausgemusterten Replikanten der Grund, sich gegen diese Menschen aufzulehnen. (Smarter, erfolgreicher, sprich fitter for survival, und evtl. auch „allzu menschlich“ im nicht so wünschenswerten Sinne sind die Maschinen von Terminator über Matrix und Ex Machina bis Westworld aber natürlich auch.)

Was allerdings im neuen Blade Runner neben der geistig-körperlichen und seelisch-moralischen Unterlegenheit gegen die Maschinen zur Diskreditierung der Menschheit nun noch expliziter hinzu kommt, ist ihre Unfähigkeit, den eigenen Planeten vor seiner ökologischen Zerstörung zu bewahren. Weil etwa durch Atomkatastrophen und überhandnehmende Müllproduktion die Erde nahezu unbewohnbar geworden ist, wurden die Replikanten als Arbeitssklaven zur Kolonisierung fremder Planeten entwickelt. So war es zwar auch schon bei Scott, aber Villeneuve stellt die ökologische Katastrophe von Anfang an viel mehr in den Fokus. Und zwar nicht nur das für Kalifornien ja eher kontraintuitive Dauerregen- und Sintflutszenario des ersten Teils, das aber natürlich auch nicht fehlen darf. Mehr noch sind es die vielfach ausschweifenden Bilder toter, ausgezehrter Landschaften, wahlweise erdgrau, müllbraun, schneeweiß oder atomorange, die diesem Film seine postapokalyptische Stimmung verleihen.

Am Ende ist das Weiß aber auch die Farbe der Hoffnung darauf, dass Mensch und Maschine gemeinsam – oder zumindest eine Verbindung ihrer beider Eigenschaften – in Zukunft eine Welt schaffen mögen, der eine sozial tragbare Verknüpfung von Ökonomie und Ökologie eines Tages tatsächlich gelingt. Der erste Träger dieser Hoffnung stirbt im Film – wenn auch zuletzt. Doch sie selbst lebt in uns und anderen weiter.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Tom Wohlfarth

Politische Theorie und Kultur

Tom Wohlfarth

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