Reinhard Heydrich und meine Großeltern

Holocaust Am 27. Mai jährt sich zum 73. Mal das Attentat auf den NS-Polizeichef Reinhard Heydrich. Es hat zufällig meine Großeltern zusammengebracht. Eine späte Rekonstruktion

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Die Geschichte nimmt oft seltsame Wege. Doch das erkennt man häufig erst im Rückblick. Viele Geschichten aus den dunkelsten Kapiteln unserer jüngeren Vergangenheit sind noch immer nicht erzählt. Man muss sie aber erzählen, um sie nicht zu vergessen. Um die Geschichte meiner Großeltern zu erzählen, muss ich zuerst eine Geschichte erzählen, die schon oft erzählt wurde, die man aber immer wieder erzählen sollte. Es ist die des NS-Verbrechers Reinhard Heydrich.

Ein Treppenwitz der Holocaustgeschichte

Reinhard Heydrich wurde 1904 in Halle an der Saale in eine nationalistisch gestimmte Musikerfamilie geboren. Aufgrund seiner Fistelstimme allerdings selbst nicht zum Opernsänger geeignet, schlug er eine Militärlaufbahn ein. Seine Nazikarriere begann 1931 jedoch erst, nachdem er wegen einer aufgekündigten Verlobung unehrenhaft aus der Marine entlassen worden war. Von einem Jugendfreund wurde er Heinrich Himmler vorgestellt, der damals zum systematischen Auf- und Ausbau der SS einen Nachrichtendienst benötigte und den Funkoffizier Heydrich – da die Fernmeldetruppe der Marine damals noch „Nachrichtentruppe“ hieß – irrtümlicherweise für einen Geheimdienstoffizier hielt. Ein Treppenwitz der Holocaustgeschichte. Dennoch war Himmler offensichtlich von Heydrichs Konzept für einen Nachrichtendienst so beeindruckt, dass er ihm schließlich die Leitung des im Oktober 1931 in München eingerichteten SS-Sicherheitsdienstes SD übertrug. Dort machte er sich ab 1933, zunächst in Bayern, bald auch in Berlin, rasch verdient darum, einen totalitären und zentralisierten Polizeiapparat aufzubauen. Das beinhaltete selbstredend nicht nur die skrupellose Ausschaltung von „äußeren“ Gegnern, sondern auch von internen Konkurrenten, etwa die gezielte Exekution von 200 Menschen im Zusammenhang mit dem fingierten Röhm-Putsch. Heydrichs Ideal war eine „kämpfende Verwaltung“. 1934 wurde er zusätzlich Leiter der Gestapo, 1936 der ihr übergeordneten Sicherheitspolizei (Sipo), die Gestapo und Kriminalpolizei zusammenfasste. 1939 schließlich wurden auch SD und Sipo im Reichsicherheitshauptamt (RSHA) unter Heydrichs Führung vereint und komplett der SS, einem Parteiorgan, eingegliedert – der totalitäre Polizeistaat war vollendet. Er wirkte nach innen wie nach außen.

Schon beim „Anschluss“ Österreichs und des Sudetenlands 1938 und der Besetzung Tschechiens 1939 waren SD-Einsatzkommandos beteiligt, das Töten der Festgenommenen war ihnen aber noch offiziell verboten. Nach dem Überfall auf Polen 1939 wurden die ersten, unmittelbar der Wehrmacht folgenden SS-Einsatzgruppen mit „völkischer Flurbereinigung“ beauftragt und von der Gerichtsbarkeit der Wehrmacht entbunden. Die Massenmorde begannen, bis Frühjahr 1940 fielen ihnen etwa 70.000 Menschen zum Opfer. Mit Beginn des Überfalls auf die Sowjetunion im Juni 1941 schließlich nahm die Vernichtung die bis heute völlig unvorstellbaren Dimensionen an. Ob der Entschluss dazu nun schon vorher oder, wie die meisten Historiker annehmen, erst danach wirklich gefällt wurde, die Erschießungen durch Himmlers und Heydrichs Einsatzgruppen in den besetzten polnischen und sowjetischen Gebieten markieren den Beginn der systematischen Vernichtung der europäischen Juden und anderer Gruppen durch das Deutsche Reich. Bis Ende 1941 ermordeten sie in der Sojwetunion über 500.000 Menschen, bis Sommer 1942 in Weißrussland und der Ukraine mindestens weitere 360.000.

Der Schlächter vom Wannsee

Am 31. Juli 1941 wurde Heydrich von Hermann Göring schriftlich mit einem „Gesamtentwurf über die organisatorischen, sachlichen und materiellen Vorausmaßnahmen zur Durchführung der angestrebten Endlösung der Judenfrage“ beauftragt, das heißt Heydrich war ab diesem Zeitpunkt offiziell der Hauptorganisator des Holocaust. In diesem Zusammenhang ging man damals von einer Gesamtzahl von elf Millionen zu vernichtenden Juden in ganz Europa, also auch außerhalb des damaligen Einflussgebiets, aus. Um alle für ein solches absolut beispielloses Unternehmen benötigten Institutionen zu koordinieren oder überhaupt erst zu informieren, lud Heydrich 15 hochrangige Regierungs- und SS-Vertreter zu einer geheimen „Besprechung mit anschließendem Frühstück“ ein. Am 20. Januar 1942 wurde im herrschaftlichen Gästehaus der Sicherheitspolizei und des SD, der ehemaligen Villa Marlier am Wannsee, bei Kaffee und Cognac heiter und sorglos der größte Massenmord der Menschheitsgeschichte organisiert. Die Entscheidung darüber war zwar in der obersten Führungsriege des Reichs und an der Ostfront ohnehin faktisch längst gefallen, aber auf Heydrichs Wannsee-Konferenz sollte die monströse Menschenvernichtungsmaschine aus Sammlung, Deportation und Ermordung im Detail logistisch koordiniert werden. Es war gigantische Tötungstechnokratie, Adolf Eichmann führte Protokoll. Zwar kam es nie zu jenem Göring vorzulegenden „Gesamtentwurf“, doch die Maschinerie nahm auch so ihren verhängnisvollen Lauf.

Bereits 1941 war Heydrich zusätzlich zur Leitung des RSHA auch offiziell stellvertretender, faktisch aber alleiniger Reichsprotektor von Böhmen und Mähren geworden. Er sollte dort den erstarkenden tschechischen Widerstand unter Kontrolle halten und damit die kriegswichtige wirtschaftliche Produktivität des Landes sichern. Die Brutalität, mit der er dieses Ziel verfolgte, brachte ihm den Beinamen „Der Schlächter von Prag“ ein. Im November ließ er das Gestapo-Gefängnis in der ehemaligen Festung Theresienstadt um ein Konzentrationslager erweitern. Aber das alles verstärkte den Widerstand zugleich.

Operation Anthropoid

Im Oktober 1941 begann die tschechoslowakische Exilregierung in London, ein Attentat auf Heydrich vorzubereiten, der als Leiter des RSHA auch im Visier des britischen Geheimdienstes stand. Die Exilregierung wollte mit einer spektakulären Aktion ihr Ansehen und ihre Legitimation stärken, und die Operation „Anthropoid“erwies sich von Anfang an als äußerst schwieriges Unternehmen. Nachdem einer der beiden speziell dafür auszubildenden Soldaten, der Tscheche Karel Svoboda, sich beim Fallschirmtraining eine Kopfverletzung zugezogen hatte und ersetzt werden musste, verzögerte sich die Operation zunächst. In der Nacht des 28. Dezember schließlich wurden gemeinsam mit einigen anderen Fallschirmjägern der Slovake Jozef Gabčík und der Tscheche Jan Kubiš von einem britischen Halifax-Bomber über Protektoratsgebiet abgesetzt. Allerdings waren sie aufgrund von Navigationsschwierigkeiten wegen Schnees fälschlicherweise nicht nahe Pilsen, sondern bei Prag gelandet, wo sie zunächst in Luftabwehrfeuer geraten waren. Doch es gelang den beiden, sich nach Pilsen durchzuschlagen, dort zu verschiedenen Widerstandsgruppen Kontakt aufzunehmen und gemeinsam das Attentat vorzubereiten. Der ursprüngliche Plan jedoch, Heydrich während einer Zugfahrt zu töten, musste als undurchführbar verworfen werden. Der Versuch, einen Ersatzplan auszuführen und Heydrichs Auto auf dem Weg zu seinem Landgut in einen Unfall zu verwickeln, wurde abgebrochen, nachdem der Wagen stundenlang nicht erschienen war.

https://tomwohlfarth.files.wordpress.com/2015/05/operace_anthropoid_-_jozef_gabc48dc3adk_jan_kubis.jpgJozef Gabčík und Jan Kubiš

Am 27. Mai 1942 schließlich versuchte man Heydrich, der zur Demonstration seiner Unverwundbarkeit stets im offenen Wagen durch die Stadt fuhr, direkt in Prag auf dem Weg zur Burg zu erschießen. Doch auch dieser letzte Versuch verlief alles andere als reibungslos. Gabčík sollte in einer Straßenkurve Heydrich in seinem Mercedes erschießen, aber die Maschinenpistole versagte. Für diesen Fall sollte Kubiš eine speziell entwickelte Granate in das Auto werfen, doch er verfehlte den Innenraum des Wagens. Die Attentäter konnten nicht wissen, dass dennoch einige Splitter das Heck durchschlagen und Heydrich erwischt hatten. Denn der konnte trotzdem noch einmal aus dem Wagen springen und einige Schüsse auf die Flüchtenden abfeuern, bevor er zusammenbrach. Er kam allerdings zunächst mit einer zertrümmerten Rippe, einem Zwerchfellriss und Granatsplittern in der Milz davon. Auch die Attentäter entkamen, mussten jedoch annehmen, dass ihre Operation gescheitert sei. Dass eine Waffe im entscheidenden Moment versagen würde, war zwar nicht wahrscheinlich, aber da man es nicht unter Kontrolle hatte, musste man damit rechnen. Dass aber auch monatelanges Wurftrainung Jan Kubiš nicht auf die unglaubliche Anspannung des Ernstfalls hatte vorbereiten können, zeigt, was für ein unvergleichlich schwieriges Unternehmen ein solcher Anschlag auf einen hochrangigen NS-Offizier gewesen sein muss.

Zu Heydrichs Behandlung sandte Himmler seinen Leibarzt Karl Gebhardt nach Prag, auch Hitlers Leibarzt, Theo Morell, und der Wannseeer Chirurg Ferdinand Sauerbruch boten ihre Hilfe an. Heydrichs Notoperation war indes bereits von Prager Ärzten durchgeführt worden und ohne Komplikationen verlaufen. Nach kurzzeitiger Besserung jedoch fiel Heydrich wegen einer Bauchfellentzündung, die vermutlich durch nichtentdeckte Partikel des Wagenpolsters in der Bauchhöhle verursacht worden war, ins Koma. Er starb schließlich am 4. Juni. Die genaue Todesursache ist bis heute nicht vollständig geklärt. Allen Schwierigkeiten zum Trotz war die Operation Anthropoid am Ende erfolgreich gewesen, Heydrich war einer der wenigen NS-Offiziellen, die durch einen Anschlag getöt werden konnten, – und mit Abstand der bedeutendste. Ob die tschechoslowakische Exilregierung jedoch das Ausmaß der möglichen Folgen richtig eingeschätzt hatte oder sie zur grausamen Steigerung des Hasses der Tschechen auf die Besatzungsmacht in Kauf nahm, bleibt ebenfalls eine offene Frage. Immerhin führten sie letztlich auch dazu, dass England und Frankreich noch im selben Jahr – freilich spät genug – das Münchner Abkommen von 1938 über den legalen Anschluss des Sudetenlands an das deutsche Reich für nichtig erklärten.

Brutale Vergeltung

Doch zunächst brachte Heydrichs Tod den Tschechen nur noch mehr Terror. Die Fahndungen und Vergeltungsaktionen des folgenden Monats im Ausnahmezustand werden von den Tschechen die „Heydrichiade“ genannt. Ziel der Nazis war es, die gesamte tschechische „Intelligentsia“ unschädlich zu machen. Tausende wurden getötet, zehntausend inhaftiert. Die Dörfer Lidice und Ležáky wurden mit den meisten ihrer Bewohner ausradiert. Unter diesem gewaltigen Druck knickte schließlich auch das Netzwerk der Attentäter ein. Ihr Kamerad Karel Čurda verriet für eine halbe Million Reichsmark ihre Namen und einige mögliche Verstecke, darunter das Haus der Familie Moravec. Nach brutalster Folter, im Angesicht des abgetrennten Kopfes seiner Mutter, verriet der 17-jährige Ata Moravec das Versteck der Attentäter in der Karl-Borromäus-Kirche. Mehreren hundert SS-Truppen gelang es jedoch nicht, sie und fünf weitere Widerständler lebend festzunehmen. Während stundenlanger Gefechte wurde neben vierzehn SS-Soldaten und zwei Widerständlern auch Jan Kubiš tödlich verletzt. Jozef Gabčík nahm sich kurz darauf zusammen mit den restlichen dreien das Leben. Doch auch nach dem Tod der Attentäter gingen Verhaftungen und Tötungen weiter. Im Gestapo-Gefängnis des KZ Theresienstadt, in dem bisher nur männliche politische Gefangene inhaftiert waren, wurde damals zusätzlich eine Frauenabteilung eingerichtet.

Dorthin nun kam während der Heydrichiade im Juni 1942 auch meine Großmutter. Sie war siebzehn, stammte aus dem Landstädtchen Budyně an der Eger und besuchte die letzte Gymnasiumklasse im nahegelegenen Roudnice an der Elbe. In Zusammenhang mit angeblichen Anschlagsplänen auf einen deutschen Lehrer und Gestapo-Informanten wurden am 20. Juni an zwei Schulen in Roudnice 84 Schüler verhaftet, darunter 16 Mädchen, meine Großmutter zusammen mit der Hälfte ihrer Klasse, Nachnamen Buchstabe A bis M. Sie hieß Hermina Morova. Die Schüler wurden zum Verhör in die Kleine Festung nach Theresienstadt gebracht und schließlich dort behalten. Die Jungen wurden wie die anderen Häftlinge im Arbeitsdienst grausam behandelt, zwei von ihnen starben bald. Den Mädchen ging es im neuen Frauenhof und bei der Wäscherei-Arbeit verhältnismäßig besser, unabhängig von der verklärenden Theresienstadt-Propaganda der Nazis, die auf das außerhalb der Festung auf der anderen Seite der Eger gelegene jüdische Getto beschränkt war. Eine Freundin meiner Großmutter, die Malerin Ema Blažková, hatte die Bleistiftmine, mit der sie das Leben in der Festung auf ihren Zeichnungen festgehalten hat, zunächst in einer Bodenritze verstecken müssen. Sie hat in Theresienstadt auch meine Großmutter gezeichnet.

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Hermina Morova (links) im KZ Theresienstadt – Zeichnung von Ema Blažková, 1942

Nach drei Monaten wurden die ersten Schüler entlassen, aber anstatt zur Schule zurückzukehren, wurden sie in Arbeitsdienste gesteckt. 19 Jungen und ein Mädchen blieben jedoch inhaftiert und wurden nach Auschwitz, Buchenwald und Flössenburg gebracht. 13 von ihnen kehrten nicht mehr zurück. Meine Großmutter aber wurde als Arbeitskraft in die deutsche Lederfabrik SIWO nach Prag geschickt. Die Fabrik war benannt nach ihrem Eigentümer, Siegbert Wohlfarth, meinem Großvater, der sich schließlich in seine neue Arbeiterin verliebte.

Mein Großvater stammte aus Kaiserslautern, war in München aufgewachsen und damals fünfunddreißig Jahre alt. Er hatte vor seinen Doktortiteln in Soziologie und Jura eine Gerberlehre gemacht, vor dem Krieg in Ecuador gelebt und dort, wie er es zu formulieren pflegte, den Indianern Mokassins verkauft. In Prag, einer der letzten Bastionen der angeschlagenen NS-Kriegswirtschaft, hat seine Fabrik nicht nur Mokassins produziert. Er war ein wohlhabender Mann, holte meine Großmutter, den ehemaligen KZ-Häftling, in sein herrschaftliches Haus und schenkte ihr zur Verlobung einen diamantbesetzten Ring. Sie waren aber noch nicht verheiratet, als meine Großmutter in den letzten Kriegswochen das erste Mal schwanger wurde.

Flucht und Vertreibung

Nachdem Prag befreit war, wurde nun mein Großvater verhaftet, enteignet und abgeschoben. Da sie nicht verheiratet waren, blieb meine Großmutter zunächst in Tschechien, wo sie nun als vermeintliche 'Kollaborateurin' auch bei ihren Landsleuten nicht mehr gut gelitten war, und bekam dort im Januar 1946 ihr erstes Kind, meine Tante. Bald darauf floh sie alleine zu meinem Großvater nach München und ließ ihre Tochter zunächst bei deren Großmutter zurück. Aber ihren Verlobungsring hat sie, in ein Tuch gewickelt, in ihrem Anus transportiert. Meine Großeltern heirateten und zogen nach Füssen. Sie bekamen Ende 1947 ihr zweites Kind, meinen Onkel, und konnten bald darauf auch ihre Tochter nachholen. Im November 1948 dann wurde am zehnten Jahrestag der Reichspogromnacht in Regensburg ihr drittes Kind, meine Mutter geboren. Danach lebte die Familie für mehrere Jahre an verschiedenen Orten im Rheinland, bis sie sich nach all den Irrfahrten letztendlich wieder in der Nähe von München, in Karlsfeld bei Dachau, wo mein Großvater unmittelbar neben dem ehemaligen Konzentrationslager wieder eine Lederfabrik eröffnete, dauerhaft niederließ. In München wurde irgendwann auch ich geboren.

Meine Großmutter hat ihren Mann, den sie als ihren Retter ansah, ihr Leben lang bedingungslos geliebt, auch noch nachdem er sie verließ und eine andere heiratete. Als diese dann plötzlich starb, nahm meine Großmutter ihn zurück (und seinen neuen Sohn dazu), und sie heirateten ein zweites Mal. Das war damals wohl eine solche Seltenheit, dass meine Großeltern deswegen in einer Illustrierten portraitiert wurden. Als schließlich mit 83 Jahren mein Großvater starb, konnte meine Großmutter nicht ohne ihn. Zwei Jahre danach nahm sie sich das Leben. Die beiden Diamanten aus ihrem Verlobungsring haben ihre zwei Töchter geerbt. Die Lederfabrik war schon lange geschlossen.

Zufall und Erinnerung

Das ist also die Geschichte, wie der Massenmörder Reinhard Heydrich durch seine eigene Ermordung meine Großeltern zusammenbrachte. Und wenigstens dafür darf ich dieser spektakulärsten Aktion nicht nur des tschechischen, sondern vielleicht des Nazi-Widerstands überhaupt, so zweifelhaft ihr Erfolg letztlich auch gewesen sein mag, mit grausiger Dankbarkeit gedenken. Denn mit ihr beginnt gewissermaßen auch meine Geschichte. Diese Geschichte aber hat mich vor zehn Jahren von allen möglichen Orten ausgerechnet nach Wannsee geführt, den Ort, mit dem Heydrich – und der mit ihm – in den Geschichtsbüchern wohl am meisten verbunden geblieben ist. Damals kannte ich allerdings weder die Geschichte Heydrichs noch die meiner Großeltern, ich wollte in Wannsee nur die Sommer am Strand verbringen. Meine Großeltern waren schon lange tot, ich habe sie kaum gekannt. Erst später habe ich angefangen, ihre Geschichte aus Erzählungen ihrer Kinder zu rekonstruieren. Ich bin damit noch lange nicht fertig, aber ich habe jetzt begonnen, sie zu erzählen, damit nicht nur ich sie nicht mehr vergesse.

In Wannsee endete vor genau 70 Jahren der Kampf um Berlin, eine sinnlose Schlacht am Ende eines Krieges, dessen Sinnlosigkeit und Abartigkeit man kaum beginnen kann zu beschreiben. Aber er hatte ein Ende. Und der Architekt der Villa Marlier, des späteren Hauses der Wannseekonferenz, Paul Otto August Baumgarten, hat in Wannsee noch genau ein weiteres Haus gebaut, das des jüdischen Malers Max Liebermann. Wenn man heute zum Haus der Wannseekonferenz geht, kommt man an der Liebermann-Villa vorbei. Zusammen mit ihrem prächtigen Garten, der Max Liebermann so oft als Motiv für seine Bilder diente und der erst im vergangenen Sommer vollständig rekonstruiert wurde, ist sie eine der schönsten Villen in Wannsee, das damit heute wieder und immer noch das Paradies ist, als das es einst erdacht wurde.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Tom Wohlfarth

Politische Theorie und Kultur

Tom Wohlfarth

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