Soziale Freiheit und kommunikative Demokratie

Sozialphilosophie Axel Honneth entwirft in seiner Aktualisierung des Sozialismus ein Konzept kommunikativer Demokratie, das eine internationale NGO umsetzen soll. Eine steht schon bereit

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Mehr als 25 Jahre nach dem Zerfall des Ostblocks und damit des sogenannten realexistierenden Sozialismus zumindest in Europa muss man sich in der Tat fragen, warum zugleich mit diesem gescheiterten Projekt auch beinah die gesamte ideelle Stoßkraft des Sozialismus überhaupt verschwunden ist. Die totalitären sozialistischen Systeme scheinen die ihnen zugrunde liegende Vision dermaßen diskreditiert zu haben, dass ein ernsthaftes Wiederanschließen an diese Vision heute geradezu unmöglich geworden ist. Dem Frankfurter Sozialphilosoph Axel Honneth reicht diese Erklärung in seinem Buch Die Idee des Sozialismus. Versuch einer Aktualisierung allerdings keineswegs aus. Er attestiert unserer Gegenwart vielmehr eine grundsätzliche Utopielosigkeit, ja eine Fetischisierung gesellschaftlicher Verhältnisse, die trotz weiter wachsender Empörung über skandalöse soziale Ungleichheiten eine radikale Veränderbarkeit dieser Verhältnisse für schlichtweg unmöglich hält. Die vielbeschworene Politik, oder besser Ideologie der Alternativlosigkeit hat hier ganze Arbeit geleistet.

Dennoch gibt es für Honneth auch dem Sozialismus selbst inherente Gründe, die seinen utopischen Kern heute noch zusätzlich anschlussunfähig gemacht haben. Ironischerweise kann man diese als ähnliche Fetischismen auffassen, nämlich zum einen ein Determinsimus zwar nicht in Bezug auf die Gegenwart, aber auf die Geschichte: der Glaube an das historisch notwendige Eintreten einer sozialistischen Revolution, oder zumindest an die zwangsläufige Selbstzerstörung des Kapitalismus. Damit zusammen hängt zum zweiten die unhinterfragte Voraussetzung des Proletariats als geschichtlichem Subjekt dieser Revolution. Vor allem aber konstatiert Honneth eine Beschränkung der sozialistischen Vision auf den Bereich der Ökonomie, dessen radikale Umgestaltung allein auch die Gesellschaft im Ganzen verändern sollte, weil er allein auch für ihr gesamtes Übel verantwortlich sei. Alle diese Punkte, historischer Determinismus, Voraussetzung eines revolutionären Subjekts und ökonomischer Monismus bezeugen die Verhaftung des Sozialismus in ihrem historischen Entstehungskontext, dem Beginn und der ersten Hochphase der Industrialisierung.

Sozialismus und Liberalismus

Aus diesem stahlharten Gehäuse will Honneth die Idee des Sozialismus befreien und sie updaten für eine Zeit, die sich daran gewöhnt hat, dass die Krisen des Kapitalismus diesen nur noch weiter zu konsolidieren scheinen; in der die halbwegs übersichtliche Klasse der Industriearbeiter von der amorphen Masse eines umfassenden Dienstleistungs- und Angestelltenproletariats abgelöst wurde, die man erst einmal unter einen Hut zu bekommen versuchen muss; eine Zeit schließlich, die immer mehr damit zu kämpfen hat, die vermeintlich ausdifferenzierten Gesellschaftsbereiche der Politik und des Intimlebens vom Diktat der Ökonomie freizuhalten. Für die genannten drei „Geburtsfehler des Sozialismus“ will Honneth dazu jeweils einen zeitgemäßen, „postmarxistischen“ Ersatz finden auch um nach der Kritik an seinem opus magnum Das Recht der Freiheit von 2011 zu demonstrieren, dass ihm sehr wohl noch an einer grundlegenden Transformation der Gesellschaft gelegen sei.

In einem Gang an die frühsozialistischen Quellen erinnert er dafür zunächst an deren Ursprung aus den Idealen der Französischen Revolution, auf deren folgende freiheitlich-individualistische Vereinseitigung durch den Liberalismus der Sozialismus später mit der eigenen Vereinseitigung der sozialen Gleichheit reagieren sollte. Anfangs sei es ihm allerdings gerade um eine Verbindung der Freiheit mit dem Ideal der brüderlichen Solidarität gegangen, was Honneth auf die Formel der „sozialen Freiheit“ bringt, in der er letztlich den Sozialismus mit dem Liberalismus verbinden möchte.

Erwartbarerweise kommt das auf beiden Seiten nicht sehr gut an. Beim konservativen Lager mag dies schon intuitiv wenig überraschen. Besonders aber auf der anderen Seite konstatierte etwa M. Neubert hier in der Freitag-Community in einer ausnahmsweise positiven Besprechung gar einen linken „Revisionismus-Beißreflex“ gegenüber Honneths Versuch. Doch auch Michael Jäger kam im Freitag zu einem wesentlich ausgeglicheneren Fazit, in dem er Honneths „großartigen Durchblick“ sogar noch einmal zu toppen versucht. Sein Vorschlag der Marktwahlen betrifft allerdings erst einmal nur eine freilich wichtige demokratisierende Verbindung von Ökonomie und Politik. Das bedarf nun einer Ergänzung, denn Honneths Konzeption greift noch weiter aus.

Freiheit und Liebe

Er geht aus von jenem Begriff der sozialen Freiheit, den er aus den Schriften der Frühsozialisten extrahiert, die in ihm die Ideale der Französischen Revolution miteinander verbinden wollten. Gegenüber dem liberalistischen Freiheitsbegriff, der im guten Einklang mit dem kapitalistischen Marktsystem in einem formal-rechtlichen, negativen Sinn die Freiheit von Einschränkungen bei der Verfolgung rein individueller Interessen bedeute, setzt soziale Freiheit ein positives Ineinandergreifen der eigenen Interessen mit denen aller anderen Gesellschaftsmitglieder notwendig voraus, indem „jeder einzelne die von ihm verfolgten Zwecke zugleich als Bedingung der Realisierung der Zwecke des jeweils anderen begreift“. Die Menschen handelten dann nicht mehr nur miteinander, sondern auch füreinander.

Wenn aber nun Honneth dieses Verhältnis der wechselseitigen Verwirklichung im Anschluss an Marx und Hegel mit demjenigen der „Liebe“ vergleicht, wird deutlich, dass diese Konzeption originär viel eher dem Bereich der intimen Beziehungen, Familie und Freundschaften zugehört als den Sphären der Wirtschaft oder der Politik (die alle übrigens auch Hegel schon als eigengesetzliche Bereiche unterschied). Marx allerdings verlasse diesen Ursprung (wie auch Hegels soziale Differenzierung), wenn er in der Folge seine Vorstellung von sozialer Freiheit auf die Schaffung einer sozialistischen Wirtschaftsweise beschränke, von der allein er auch eine gesamtgesellschaftliche Emanzipation erwarte. Ebenso aber nimmt er sich dadurch die Möglichkeit, einen eigenständigen Bereich der Politik, zumal der neuen demokratischen Mitbestimmung, unter den normativen Aspekten seines emanzipativen sozialen Freiheitsbegriffs zu fassen. Die Frühsozialisten bis hin zu Marx waren nach Honneth der Ansicht, dass die Teilhabe der Arbeiter an den Produktionsmitteln und somit die Herrschaft des Volkes über die wirtschaftliche Produktion eine politische Willensbildung letztlich überflüssig machen werde.

Demokratische Lebensform

Alle drei gesellschaftlichen Sphären soll aber nun der experimentelle Ansatz umfassen, den Honneth im Anschluss an John Dewey entwickelt. Dieser hatte als generelle Richtschnur für sozialen Fortschritt das Maß und den Umfang einer freien, allgemein zugänglichen gesellschaftlichen Kommunikation vorgeschlagen. Je mehr Menschen an dieser Kommunikation wirklich und unbeschränkt teilnehmen, und damit auch an der kollektiven Lösung gesellschaftlicher Probleme, desto sozialer und fortschrittlicher ist diese Gesellschaft. Die Kämpfe ausgegrenzter und benachteiligter Gruppen um Mitbestimmung lassen sich letztlich immer auch und vor allem als Kämpfe um die Teilnahme an dieser Kommunikation verstehen. Sie muss daher ausnahmslos allen Bürgern zugänglich gemacht werden.

Das heißt aber zugleich, dass sie auch in allen gesellschaftlichen Bereichen gleichermaßen verwirklicht werden soll, in denen sie dann jeweils auch deren eigenen Strukturprinzipien folgt. Das organische Zusammenspiel dieser drei differenzierten und emanzipierten Kommunikations- und Freiheitssphären, der intimen Beziehungen, der Wirtschaft und der Politik, nennt Honneth den Inbegriff einer „demokratischen Lebensform“. Sowohl die einzelnen Bereiche als auch ihr Zusammenwirken werden vom Prinzip der sozialen Freiheit organisiert, und das Steuerungsorgan dieser kommunikativen Demokratie ist die Institution einer Öffentlichkeit, „an der alle Betroffenen in möglichst zwangloser und ungehinderter Form teilnehmen können“.

Kommunikative Demokratie

Es gelingt Honneth mit diesem Entwurf, die aus den Schriften der Frühsozialisten und Marx gewonnene Idee der sozialen Freiheit gesamtgesellschaftlich zur Geltung zu bringen. Aber auch in Bezug auf die einzelnen Sphären macht er gewinnbringende Anmerkungen: So seien etwa sozialistische Ansätze zur Emanzipation der Frauen allein durch deren Integration in die ökonomische Produktion zum Scheitern verurteilt gewesen, solange man nicht erkannte, dass ihre Unterdrückung in den Familienverhältnissen ihren eigengesetzlichen Anfang nimmt und sich dort auch bei erwerbstätigen Frauen und Müttern bis heute fortsetzt.

Wenn man aber nun die originäre Gewinnung des Prinzips der sozialen Freiheit aus eben der Sphäre der persönlichen, emotionalen und sozialen Beziehungen noch ernster nimmt, wäre hier zu fragen, ob und inwiefern die ihr eigenen Funktionsweisen und Kommunikationsformen nicht auch die der anderen Sphären bereichern könnten. So hat für den Bereich der Politik etwa der Philosoph Andreas Schiel im Anschluss an seine Konzeption einer Liebesethik den Entwurf einer „kommunikativen Bürgerdemokratie“ vorgelegt, in der demokratische Beratschlagungsprozesse nicht primär auf rein sachorientierte, rationalisierte Auseinandersetzung und argumentative Konkurrenz, sondern vermehrt auch auf eher emotionale Aspekte der wechselseitigen Anerkennung und Verständigung ausgelegt wären. Das könnte dann freilich ebenso für eine demokratische Deliberation in Bezug auf die ökonomische Sphäre gelten.

Soziale Freiheit jetzt

Dieser Vorschlag wäre hier allerdings nicht als Versuch einer Korrektur, sondern vielmehr als ergänzende Fortsetzung und Ansatz zum konkreten Weiterdenken von Honneths universellem Entwurf zu verstehen, für deren Umsetzung dieser nicht auf eine revolutionäre soziale Bewegung baut, sondern stattdessen auf die bereits erreichten und institutionalisierten Fortschritte, etwa in der Sozialgesetzgebung, seit Beginn der kapitalistischen Moderne verweist. Dennoch werden einige weitere von deren wichtigsten Paradigmen für Honneth in Zukunft – ergebnisoffen – infrage zu stellen sein, etwa das Erbrecht oder gewisse Eigentumsrechte an Produktionsmitteln. Die Organisation dieser Aufgaben eines experimentellen revidierten Sozialismus soll in Ermangelung eines revolutionären Subjekts letztlich einer noch imaginären internationalen Nichtregierungsorganisation nach dem Vorbild von Greenpeace oder Amnesty International überantwortet werden.

Für den Aspekt der „kommunikativen Demokratie“ (neben anderen) existiert eine solche etwa in Form des von Schiel mitgegründeten gleichnamigen Vereins und dessen Think Tanks, des denkzentrum|demokratie. Für Honneths spezifischen Gesamtentwurf aber wäre sie wohl erst noch ins Leben zu rufen. Ob dafür allerdings, trotz seiner verdienstvollen und meiner Meinung nach gelungenen Aktualisierung und Rehabilitierung, der Begriff „Sozialismus“ besonders gut geeignet ist, wage ich im Hinblick auf Honneths intendierte Adressaten, nämlich „alle Bürger“, für den Augenblick noch zu bezweifeln. Stattdessen kommen aber andere eingängige Namen infrage, etwa „Soziale Freiheit jetzt“ oder „Social Freedom International“. Eine so benannte Organisation könnte sich vielleicht mehr Erfolg erhoffen. Sollte Honneth oder jemand anders sich einmal zu ihrer Gründung entschließen, stehen das denkzentrum|demokratie und Kommunikative Demokratie e. V. zur Kooperation bereit.

Dieser Artikel erscheint auch bei demokratiEvolution, dem Blog des denkzentrum|demokratie.

Der Autor ist Vorstandsmitglied bei Kommunikative Demokratie e. V.

Axel Honneth, Die Idee des Sozialismus. Versuch einer Aktualisierung, Suhrkamp 2015, 168 S., 22,95 €.

Andreas Schiel, Liebe, Kommunikation und Ethik. Pragmatische Überlegungen zur kommunikativen Fundierung von Moral, Berlin 2014.

ders., Demokratie als Wagnis der Verständigung. Zur Idee einer kommunikativen Bürgerdemokratie, Berlin 2014.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Tom Wohlfarth

Politische Theorie und Kultur

Tom Wohlfarth

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