Theorie als Praxis des Partygesprächs

Ideengeschichte Philipp Felsch erzählt furios, wie Theorie-Debatten um '68 als revolutionäres Handeln galten und in den 80ern im Kneipengerede endeten. Gibt es bald eine Fortsetzung?

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Es ist ja schon sehr viel über Philipp Felschs grandioses Buch Der lange Sommer der Theorie gesagt worden, zumeist Positives, bisweilen Begeistertes. Felsch zeichnet darin die Geschichte des philosophisch-literarischen Genres Theorie vor allem anhand der Entwicklung seines wohl profiliertesten Exponenten, des Berliner Merve Verlags und seiner Verleger nach. Ihm ist damit ein furioses Zeitportrait der 1960er bis '80er Jahre gelungen. Einer der wenigen, dafür mehrfach von Rezensenten geäußerten Kritikpunkte ist interessanterweise Felschs eigener Verzicht auf Theorie sowie auf Historisierung. Das ist als Vorwurf an den distanziert betrachten wollenden Historiker zwar vielleicht etwas verwunderlich. Angesichts der letztlich doch auch melancholisch stimmenden Erzählung einer fortlaufenden Reihe immer neuer theoretischer Relativierungen ist es allerdings auch verständlich.

Die vielleicht zentrale, jedenfalls aber initiale Theoriekonstruktion, die Felsch beschreibt, ist diejenige Louis Althussers von Theorie als theoretischer Praxis. Zuvor hatte schon Adorno Marx' frühe These über den Gegensatz von Interpretation der Welt und ihrer Veränderung dialektisch umgekehrt: „Die Welt ward wahrscheinlich auch deswegen nicht verändert, weil sie zu wenig interpretiert worden ist". Nun ermöglichte auch Althussers Konzeption, die „Theorie der Revolution“ selbst schon als revolutionäre Praxis zu begreifen. Diese „für die Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik entscheidende Sublimierungsleistung“ (SZ) war in aktivistisch bewegten Zeiten für die jungen Büchermacher eine willkommene Legitimationsgrundlage, die sie forthin leiten sollte. Auch noch als sich spätestens in den achtziger Jahren die ausschweifenden Theoriediskussionen immer mehr im biergeschwängerten Kneipengerede auflösten.

Theorie der Theorie

Sozusagen metatheoretisch wartet Felsch am Ende dann doch noch einmal mit einer eigenen kleinen Theorie der Theorien der Kommunikation auf, mit denen sich Jürgen Habermas und Niklas Luhmann gegenüberstanden. Hatte ersterer zwar Anfang der 60er Jahre noch die Bedeutung der englischen Kaffeehäuser um 1700 für die Entstehung der bürgerlichen Aufklärung betont, spielte die Kneipenkultur der 1970er und '80er Jahre für seine „bukolische“ Starnberger Konzeption des herrschaftsfreien Diskurses keine Rolle mehr. Ganz anders überraschenderweise Luhmann, der ebenfalls kein Nachtschwärmer war. Dennoch stellte das Bargespräch für ihn eine Art Präzedenzfall für das „'ganz normale Wunder' des Miteinander-Redens“ dar. Denn Luhmanns Theorie drückte „die Einsicht aus, dass Kommunikation unwahrscheinlich war und dass Gesellschaft aus der Summe der Vorkehrungen bestand, um sie wahrscheinlicher zu machen.“ Die Kneipe sei dafür ein Paradebeispiel. Bei der legendären Habermas-Luhmann-Kontroverse, so resümiert Felsch mit womöglich nur halb zwinkerndem Auge, handle es sich also in Wirklichkeit „um eine verklausulierte Auseinandersetzung über den Status von Kneipengesprächen“. Und am Ende darf Luhmann dann mit den Merve-Verlegern auch noch einmal ganz praktisch ins Nachtleben eintauchen.

Die Gegenwart der Vergangenheit

Letztlich ist das größte Desiderat von Felschs Buch vielleicht auch nur dasjenige nach seiner Fortsetzung, und zwar nicht bloß, um die weißweinselige Wehmut angesichts des vermeintlichen Endes der Theorie zu besänftigen. Sondern auch, weil tatsächlich sein historisch-konzeptioneller Kern, die 70er Jahre, für unsere Gegenwart in vielerlei Hinsicht noch immer bestimmend geblieben ist. 1970 war der erste offizielle Merve-Band erschienen. 1971 wurde der Gold-Standard des Dollars aufgegeben, 1973 brach das Bretton-Woods-System auseinander, und mit dem Chicago Board Options Exchange wurde die erste Börse für Derivate eröffnet und damit der Grundstein für den heutigen Finanzkapitalismus gelegt. 1974 diagnostizierte Richard Sennett den „Verfall des öffentlichen Lebens“ und die „Tyrannei der Intimität“, die gemeinsam mit den Finanzmärkten die heutige Postdemokratie prägen. 1977 dann setzte Michel Foucault den Merve-Herausgebern in seiner Pariser Wohnung auseinander, dass die RAF mit völlig anachronistischen Mitteln, nämlich mit kruder Gewalt versuche, eine längst viel subtiler agierende Staats- und Kapitalmacht zu bekämpfen (die Foucault seit Kurzem „Biomacht“ nannte). 1979 schließlich gewann Margaret Thatcher die Wahlen in Großbritannien, 1981 Richard Nixon in den USA, 1982/83 Helmut Kohl in der BRD. Die neoliberale Postmoderne hatte begonnen. Sie ging 1989 endgültig ins vermeintliche „Ende der Geschichte“ über, die allerdings nach anfänglicher Schockstarre nach 2001 spätestens seit 2008 als womöglich doch noch nicht ganz beendet erscheint.

Und seitdem ist auch die Theorie wieder da, und die linke Intelligenzija macht sich wieder schwierige Gedanken darüber, wie der Kapitalismus doch noch überwunden werden kann. Daher haben sich auch die neuen Merve-Verleger eine Fortsetzung von Felschs Buch gewünscht und werden sie nun demnächst gemeinsam mit dem Autor versuchen, und zwar in einer Gesprächsrunde im Rahmen des Literaturfestivals Berlin im kommenden Monat. Das ist zwar noch eine Weile hin. Aber der Rezensent ist schon jetzt gespannt darauf und wird an dieser Stelle darüber berichten. Und an dieser.

Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960 – 1990, Philipp Felsch, C.H. Beck 2015, 327 S., 24,95 €

"After Theory? Kritisches Denken im 21. Jahrhundert", Lesung und Gespräch, 16. Sept., 19:00 h, Collegium Hungaricum Berlin, Dorotheenstr 12.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Tom Wohlfarth

Politische Theorie und Kultur

Tom Wohlfarth

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