Verschwendete Jahrzehnte

Sozialismus-Debatte Linke Positionen werden wieder dominanter im öffentlichen Diskurs. Was sagt das aus über den Zustand des Landes?

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Die Debatte über Sozialismus nützt auch den Europawahlen
Die Debatte über Sozialismus nützt auch den Europawahlen

Foto: Rock Cohen/Flickr (CC 2.0)

Da wird also in diesem in den vergangenen Jahren doch etwas nach rechts gerückten öffentlichen Diskurs in Deutschland tatsächlich wieder (halbwegs) ernsthaft über Sozialismus geredet. Ist das nun ein Zeichen für den Anfang vom Ende der Rechtswende? Oder ist es bloß die andere Seite der Medaille einer allmählichen allgemeinen Entmittung und Extremisierung? Folgt man dem Politikwissenschaftler Timo Lochocki in seinem Buch Die Vertrauensformel müsste allein die endlich wieder zunehmende öffentliche Thematisierung ökonomischer Fragen im Gegensatz zu kulturell-identitätspolitischen dem Rechtspopulismus das Wasser abgraben. Denn der habe nicht zuletzt auch in der großkoalitionären wirtschaftspolitischen Einmütigkeit der Post-Agenda-2010-Jahre und vor allem der Hochkonjunkturdekade nach 2008 gut gedeihen können (siehe die „Sarrazin-Debatte“ 2010/11).

Geht es jedoch nach dem Politologen Philip Manow, ist das Populismusproblem damit noch lange nicht erledigt. Der vermeintlich vorschnelle Ruf nach „Sozialismus“ und „Enteignung“ unterliegt nämlich heutzutage ebenfalls leicht einmal dem Vorwurf, populistisch zu sein, nur eben linkspopulistisch. Wie Manow in seinem Buch Die politische Ökonomie des Populismus schreibt, hängt die vornehmliche Verbreitung von Rechts- oder Linkspopulismus mit der jeweils regional typischen Form der politischen Ökonomie zusammen. So ist in den stark klientelistischen Sozialstaaten Südeuropas eher ein die Globalisierung von Geld und Gütern kritisierender Linkspopulismus erfolgreich, während der Rechtspopulismus Nordeuropas sich vor allem gegen die Globalisierung, sprich Immigration, von (unerwünschten) Personen wendet. Nun neigt aber einmal die eine Seite eher zu einer ökonomischen Weltdeutung, während sich die andere häufig mit kulturalistischen Volksverdrängungsszenarien verknüpft.

Könnte man also stark vereinfacht sagen, dass in den eher dem Rechtspopulismus (und damit soziokulturellen Fragen) zuneigenden, nördlichen Ökonomien (sozio-)ökonomische Fragen und Probleme eben keine so große Rolle spielen? Oder jedenfalls nur auf einer sekundären Ebene? Dann würden sich die Thesen von Manow und Lochocki nicht widersprechen, sondern ergänzen.

Geht es uns wirklich so gut?

Wenn nun aber in Deutschland allmählich auch der Linkspopulismus Auftrieb bekommt, was sagte das dann aus über den Zustand dieser Politischen Ökonomie? Noch immer halt sich hier nämlich hartnäckig das Narrativ, dass es ‚uns doch eigentlich sehr gut gehe‘. Aber stimmt das denn wirklich? Sicher, nach 2008 hat Deutschland die Folgen der Weltfinanz- und wirtschaftskrise sehr gut für sich nutzen können und in den vergangenen zehn Jahren eine beeindruckende Konjunktur hingelegt. Und doch setzt sich immer mehr auch die Einsicht durch, dass der Wohlstand nicht bei allen gleichermaßen ankommt.

Anstatt von einem „goldenen Jahrzehnt“ wird man in einem künftigen Blick zurück womöglich eher von einem ‚verschwendeten Jahrzehnt‘ sprechen müssen, wie der Publizist Stephan-Götz Richter meint. Anstelle von zukunftssichernder Strukturpolitik habe Angela Merkel nämlich erst das von „Gerhard Schröder angelegte Familiensilber fleißig aufgezehrt“und ließ dann auch die Jahre der Hochkonjunktur in einer denkbar unoptimierten Gießkanne versickern, statt für sozialen Ausgleich zu sorgen oder ihrerseits für die Zukunft vorzusorgen. Das hat inzwischen auch der Youtuber Rezo in einem zumindest Hoffnung erweckend weit verbreiteten Video-Rant detailliert dokumentiert. Hier wäre gar die Rede von 'verschwendeten Jahrzehnten' angemessener.

Die Folgen sind massive soziale Ungleichheit, vor allem durch einen weiterhin gigantischen Niedriglohnsektor, eine Erosion des (unteren) Mittelstands, und eine Rückständigkeit der deutschen Infrastruktur, von Autobahnen bis Datenautobahnen, die der (noch) viertgrößten Volkswirtschaft der Welt mehr als unwürdig ist. Und auch unter den Folgen des Dieselskandals einer vollkommen fehlgesteuerten Automobilindustrie leiden in erster Linie diejenigen, die sich nicht einfach mal so ein neues Auto leisten können, um die nun vorgeschriebenen Schadstoffwerte in den Innenstädten einzuhalten. Vom Markt- und Staatsversagen auf den Wohnungsmärkten – oder der Zerstörung des Planeten – ganz zu schweigen. So ist es wahrlich kein Wunder und durchaus zu begrüßen, dass sich ein auch hierzulande allmählich erstarkender Linkspopulismus an diesen Themen abarbeitet.

Populismus als Korrektiv

Eine wichtige Funktion von Populismus kann es sein, eingefahrene demokratische Strukturen aufzumischen, ihnen ein „nützliches Korrektiv“ (Frank Decker) gegenüberzustellen, aber auch die Grenzen des Sagbaren in sinnvoller Weise zu erweitern. Eine im scheinbar selbstsicheren, liberalen Konsens angerostete Gesellschaft muss das gegebenenfalls erst einmal wieder aushalten lernen. Auch damit sinnvoll umzugehen.

Einer der erstaunlichsten Aspekte an der Entwicklung der sogenannten Flüchtlingskrise ab 2015, wie Lochocki sie in seinem Buch beschreibt, waren die Umstände, wie die Bundesregierung nach dem kurzen Sommer der Willkommenskultur ziemlich schnell zu einer restriktiveren Migrationspolitik überging. Dazu gehörten die Schließung der Balkanroute und das EU-Türkei-Abkommen von Anfang 2016. Doch die Kanzlerin gab sich weiter flüchtlingsfreundlich und riskierte im Streit mit Seehofer um die Begriffshülse „Obergrenze“ noch bis Sommer 2018 die alte und neue Regierungskoalition.

Es wirkt im Rückblick wie ein ganz und gar mysteriöses, multiples Getriebensein: Erst ließ man sich durch die Kritiker vom Kurs der Willkommenskultur abbringen, tat aber weiter so, als wäre das Gegenteil der Fall, und stritt sich munter weiter mit denselben Kritikern. Und am Ende wunderte man sich über den Erfolg der AfD. Der hatte aber nichts mit den tatsächlichen Flüchtlingszahlen in Deutschland zu tun, die seit Dezember 2015 rapide sanken. Sondern allein mit dem Streit der Unionsparteien über den richtigen Umgang mit dieser im Grunde schon behobenen Krise.

Endlich wieder linke Themensetzung

Was hat das aber alles mit der aktuellen Sozialismusdebatte zu tun? Nun, auch die SPD hatte in den vergangenen Jahren ein massives Kommunikationsproblem. Angefangen von Mindestlohn und Rente mit 63 konnte die SPD zwar einen Großteil ihrer Vorhaben und Wahlversprechen seit 2013 umsetzen. Dennoch hat sie in der Wählergunst davon alles andere als profitiert. Der anhaltende Fokus der öffentlichen Debatte auf Migrations- und Identitätsfragen anstatt auf ökonomische und soziale Themen sowie der Dauerstreit der konservativen Koalitionspartner haben letztlich mehr noch als diesen selbst der SPD geschadet.

Dass die SPD aber nun durch die Sozialismusthesen ihres Juso-Vorsitzenden auch noch von links weiter aufgerieben wird, steht indes nicht zu befürchten. Dafür ist wohl auch das Ausmaß der prompten Kritik an Kühnert schon ein verlässliches Zeichen. Doch finden sich unter den moderaten Kritikern bereits so viele konstruktive, im besten Sinne sozial-demokratische Positionen und Reformvorschläge, dass man dieser Debatte noch eine lange und gerne auch kontroverse Zukunft wünschen mag.

Denn auch wenn man sich zu Recht darüber streiten kann, ob Enteignungen die richtige Reaktion auf soziale Missstände sind, ist es doch vor allem wichtig, dass überhaupt wieder darüber gestritten wird. Nachdem die SPD nun gefühlte Ewigkeiten lang nur verzweifelt versuchen konnte, Angela Merkel noch irgendwie links zu überholen, scheint sie nun endlich auch wieder zum Agendasetzer zu werden. Hoffen wir im Sinne einer lebhaften demokratischen Öffentlichkeit, dass das so bleibt. Auch den anstehenden Europawahlen kann das nur nützen, letztlich vor allem im Kampf gegen den (Rechts-)Populismus.

Dieser Beitrag erscheint auch bei demokratiEvolution.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Tom Wohlfarth

Politische Theorie und Kultur

Tom Wohlfarth

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