Von Thatcher lernen

Sachbuch Chantal Mouffe fordert einen linken Populismus und plädiert für eine Radikalisierung der Demokratie
Ausgabe 39/2018

Ein Gespenst geht um in Europa und anderen Ländern des einstmals so goldenen Westens“, schreiben Georg Seeßlen und Markus Metz in ihrem Buch Der Rechtsruck (Bertz + Fischer 2018), „das Gespenst des Rechtspopulismus.“ Ginge es nach der belgischen Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe, könnte hier wohl ruhig die stilistisch prägnantere Variante ohne „Rechts-“ stehen. Auch verbände sie mit diesem „Gespenst des Populismus“ wohl ein nicht unähnliches Sendungsbewusstsein wie seinerzeit die Autoren des Kommunistischen Manifests. Denn für Mouffe befinden wir uns derzeit in einem „populistischen Moment“, in dem die tief greifende Krise der neoliberalen Hegemonie zum Ausdruck kommt.

Es ist also zugleich der Moment der Chantal Mouffe, hat sie doch einen Großteil ihres Lebens – teils gemeinsam mit ihrem 2014 verstorbenen Mann Ernesto Laclau – der Entwicklung einer populistischen Strategie zur Bekämpfung des Neoliberalismus gewidmet. Nun hat sie zwar nicht direkt ein „populistisches Manifest“ geschrieben, aber doch ein eindringliches Plädoyer Für einen linken Populismus. Für Kenner ihres Werks wird es wenig Neues enthalten. Es bietet vielmehr eine konzise und prägnante, wenn auch stellenweise etwas redundante Einführung in dieses Werk vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Lage. So ist das Büchlein auch nicht als Beitrag zum „bereits jetzt überreich bestellten Feld der ‚Populismusforschung‘“ gedacht, wie Mouffe klarstellt, sondern als „politische Intervention“. Sie will den gegenwärtigen „populistischen Moment“ ergreifen, um die Hegemonie der neoliberalen Postpolitik durch eine „radikale Demokratie“ abzulösen.

Denn eben die Krise des Neoliberalismus hat diesen „populistischen Moment“ erzeugt, der von rechts bisher wesentlich erfolgreicher genutzt wurde. Dem will Mouffe entgegenwirken, wie sie und Laclau bereits 1985 mit ihrem Buch Hegemonie und radikale Demokratie dem heraufziehenden Sieg des Neoliberalismus in Gestalt Margaret Thatchers über die keynesianische Sozialdemokratie der Nachkriegszeit entgegenwirken wollten.

Strategie statt Ideologie

Damals war es die Unfähigkeit der Linken, den politischen Charakter der seit den 1960ern aufgekommenen neuen sozialen Bewegungen, etwa des Feminismus und des Antirassismus, zu erkennen, die es ihr unmöglich machte, eine breite gesellschaftliche Mehrheit für ihre Politik aufrechtzuerhalten. Im Gegenteil sollte es die durch Thatcher, Reagan und Kohl mithilfe eines konservativ-autoritären Populismus erfolgreich zum gesellschaftlichen „Common Sense“ (am Ende auch der Sozialdemokratie selbst) gewordene neoliberale Ideologie sein, die als „progressiver Neoliberalismus“ schließlich die Forderungen dieser neuen Bewegungen kooptierte.

Heute ist es nicht zuletzt die linke Berührungsangst vor dem Populismus, die nach wie vor verhindert, was weder 1985 am Anfang noch 2008 am erhofften Anfang vom Ende der neoliberalen Hegemonie gelang, nämlich diese zu stürzen und durch eine radikalisierte – sprich: um die Forderungen der neuen sozialen Bewegungen erweiterte – Demokratie zu ersetzen. Den Populismus soll die Linke aber nun folgerichtig „vom Thatcherismus lernen“, wie eines der Buchkapitel überschrieben ist. Denn Populismus ist kein politischer Inhalt, keine Ideologie, für Mouffe ist er eine Strategie.

Diese besteht zunächst darin, eine „politische Frontlinie“ aufzubauen. Bei Thatcher verlief die zwischen dem „Establishment“ aus „überbordender Staatsbürokratie“ und den Gewerkschaften und „fleißigen einfachen Leuten“. Für den linken Populismus aber müsse sie zwischen „dem Volk“ und der „Oligarchie“ gezogen werden. Mit „Volk“ ist hier freilich keine „essentialistische“ ethnische oder nationale Entität gemeint, sondern ganz einfach – der Wortbedeutung von „Populismus“ entsprechend – das Staatsvolk, der populus oder demos, der damit den Populismus auf die demokratischen Ideale verpflichtet: Gleichheit und Volkssouveränität. Denn diese sind in der neoliberalen Ära mehr und mehr in der Versenkung der Postdemokratie verschwunden, die das Primat der Wirtschaft über das der Politik stellt und den politischen Liberalismus auf seine ökonomische Komponente reduziert.

Die von Mouffe intendierte Radikalisierung der Demokratie bedeutet nun nicht, die liberalen politischen Institutionen revolutionär zu überwinden. Im Gegenteil: Mouffes „radikaler Reformismus“ will die nur noch vermeintlich repräsentativen Institutionen repräsentativer machen und den Liberalismus (wieder) demokratisch. Dabei nimmt Mouffe schließlich auch die zu erwartenden Einwände vorweg, warum sie denn für dieses Projekt ausgerechnet den inzwischen so verpönten Begriff des „Populismus“ wählen müsse und warum der dann nicht wenigstens „demokratischer“ oder „progressiver“ Populismus heißen könne. Doch für Mouffe ist der Begriff „Populismus“ eben so inhärent mit dem demokratischen Anspruch der egalitären Volkssouveränität verknüpft, dass man ihn nicht den nationalistischen Antidemokraten überlassen darf. So gesehen wäre dann ein „demokratischer“ Populismus gewissermaßen auch eine Tautologie.

Der Hauptgrund für das Bestehen auf „linkem“ Populismus liegt darin, dass er über den Links-rechts-Antagonismus das für Mouffes Theorie wesentliche agonistische Prinzip zum Ausdruck bringt.

Hier setzen viele Kritiker Mouffes an: Die populistische Frontlinie zwischen „wir“ und „sie“ konsolidiere letztlich nur gesellschaftliche Spaltungen und stehe somit auch in Konflikt mit der Demokratie. Dabei wird meist übersehen, dass Mouffes Agonistik (nicht Antagonistik!) eben nicht zwischen „Freund“ und „Feind“ unterscheiden will, sondern zwischen politischen „Gegnern“, deren Streit für sie den demokratischen Prozess erst ausmacht. Dauerhaften Ausgleich dürfe man hier freilich nicht erwarten. Aber man darf sich erinnern, wie nach der letzten Bundestagswahl in seltenster Einhelligkeit allseits „endlich wieder mehr Streit in der Politik“ und „Unterscheidbarkeit der Parteien“ gefordert wurde, um das weitere Erstarken der Ränder aufzuhalten. Das unselige Gezeter und Gezanke von heute war damit wohl nicht gemeint.

Die agonistische Frontlinie soll aber nicht bedeuten, dass sich die Linke intern etwa darüber entzweit, ob nun wirklich alle Rechten Nazis oder zumindest Arschlöcher sind und ob man mit denen reden darf oder nicht. Sondern sie bedeutet, eine wahrhaft soziale, demokratische politische Alternative zu bieten, damit es dann wenigstens ein, zwei Gründe weniger gibt, Nazi oder Arschloch zu werden – oder auch AfD zu wählen.

Klar ist also, dass Mouffes linker Populismus jenseits von Parteipolitik-Petitessen auf eine echte, lagerübergreifende linke Sammlungsbewegung abzielt. In der Radikalisierung der Demokratie ist ihr Ziel die universelle Ausweitung der Gleichheit auf jegliche potenziell unterdrückende oder ausschließende Kategorie, sei es Geschlecht, Rasse oder Nation. Dennoch sollte dieses Projekt für Mouffe auf der Ebene des Nationalstaats beginnen, weil dieser nun mal „nach wie vor einen der entscheidenden Räume für das Ausüben von Demokratie und Volkssouveränität darstellt“ und es daher „hochriskant“ wäre, ihn dem Rechtspopulismus zu überlassen.

Fluchtpunkt Hellersdorf

Den Vorwurf des Nationalismus aber könnte Mouffe auf formaler Ebene gar an einen Teil der Linken zurückgeben, attestiert sie diesem doch, eine Gruppe wie die Arbeiter (oder auch Migranten) ähnlich „essentialistisch“ zu konzipieren wie die Rechte Ethnien oder Nationalitäten. Doch ein*e Migrant*in ist eben nicht nur als Migrant*in ein revolutionäres Subjekt, sondern vor allem als Verfolgte*r, Benachteiligte*r oder Unterdrückte*r. Die gibt es aber ebenso im eigenen Land und auch ohne „klassischen“ Migrationshintergrund. Oder anders gesagt: Eine*r muss nicht unbedingt von Syrien nach Deutschland migriert sein, es reicht manchmal auch, von Prenzlauer Berg nach Hellersdorf verdrängt worden zu sein. Damit soll aber nichts relativiert und niemand priorisiert werden, sondern es wird eine „Äquivalenzkette“ geknüpft, mit deren Hilfe das multiethnische und potenziell transnationale „Volk“ eines übergreifenden linken, radikal demokratischen Populismus konstruiert werden kann.

„Ein Gespenst geht um in der westlichen Welt – das Gespenst des ‚Populismus‘“, schrieb bereits 1985 der Soziologe Helmut Dubiel in einem ebenso betitelten Aufsatz und stellte fest, dass im Unterschied zum Kommunismus zu Marx’ und Engels’ Zeiten der Begriff des Populismus nun weitaus widersprüchlicher verwendet würde. Er bezog sich dabei auch auf die Forschung Laclaus. Dubiel wollte damals den „demokratisch Progressiven“ die Angst vor dem „populistischen Moment“ und seinen Gespenstern nehmen. Diesen Begriff hatte Lawrence Goodwyn kurz zuvor in seinem gleichnamigen Buch für bestimmte Konstellationen sozialer Umbrüche geprägt. Damals war es der Beginn der neoliberalen Hegemonie, heute ist es ihr ersehntes Ende, an dem Chantal Mouffe versucht, die Strategie des Populismus zur Überwindung dieser Hegemonie auch unter Linken populärer zu machen und das Gespenst des Linkspopulismus – endlich – überhaupt erst zum Leben zu erwecken.

Info

Für einen linken Populismus, Chantal Mouffe, Edition Suhrkamp 2018, 111 S., 14 €

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