Wo ist die Solidarität?

Wohlstand und Armut In einem der reichsten Länder der Welt könnten wir uns internationale Solidarität gut leisten. Dennoch werden sogar die Armen im eigenen Land weiter stigmatisiert

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Auf gehts! Gerade jetzt ist wieder die Zeit, über Wohlstand, Armut und Solidarität nachzudenken
Auf gehts! Gerade jetzt ist wieder die Zeit, über Wohlstand, Armut und Solidarität nachzudenken

Foto: imago/Ralph Peters

Wir leben in einem der wohlhabensten Länder der Welt. Die Stimmung der Menschen spiegelt das allerdings nicht ganz so eindeutig wider. Zwar geben in Umfragen die meisten Menschen an, mit ihrer Gesamtsituation eher zufrieden zu sein. Doch soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit halten trotzdem viele für ein Problem. Der darin enthaltene Widerspruch steigert sich schließlich noch einmal, wenn es um die Frage geht, was denn jeder einzelne bereit wäre beizutragen, um soziale Ungleichheit zu bekämpfen. So gut geht es uns dann doch wieder nicht.

Ein guter Indikator für dieses Hin-und-her-Gerissensein ist die von Zeit zu Zeit aufkommende Debatte über Hartz IV. Noch immer werden wenige Themen bei uns so erhitzt diskutiert wie die 2005 von Rot-Grün eingeführte Grundsicherung. So ist es selbst für einen frisch vereidigten konservativen Gesundheitsminister nach wie vor bestens geeignet, um sich durch polternde Thesen damit zu profilieren. Dabei ist die Unterkomplexität der von Jens Spahn damals aufgeworfenen Frage, ob man mit Hartz IV wirklich arm sei, gar nicht das Entscheidende.

Das Entscheidende ist die Frage, warum in einem so reichen Land überhaupt noch derart kleinkariert über solche Fragen gestritten werden muss, und die Bundesregierung weiterhin fleißig dabei trickst, den Hartz-IV-Satz möglichst noch unter dem verfassungskonformen Grundsicherungsniveau zu halten, während die Steuereinnahmen weiter sprudeln. Es ist nun einmal so, dass die Agenda-2010-Propaganda der Jahrtausendwende äußerst nachhaltige Arbeit geleistet hat. Damals hatte die Stigmatisierung von Armut und Arbeitslosigkeit die Funktion, die Bereitschaft für niedrige Löhne und schlechte Arbeitsbedingungen hoch zu halten. Nur so konnte die Strategie, den Arbeitsmarkt über einen Niedriglohnsektor zu sanieren, optimal aufgehen.

Zwanzig Jahre später gibt es einen Mindestlohn, auch wenn den Millionen Beschäftigte gar nicht bekommen. Gleichzeitig wird über eine Erhöhung diskutiert. Die Arbeitslosigkeit ist auf Rekordtief, und das liegt nicht nur an den beschönigten Statistiken. Die deutsche Wirtschaft brummt, sie hat die Krisen seit 2008 so gut überstanden wie kaum ein anderes (europäisches) Land. Trotzdem gibt es weiterhin eine breite Stigmatisierung von Armut und eine Entsolidarisierung in der Gesellschaft. Die Mittelschicht ist verunsichert, sie trägt die Hauptlast des Sozialstaats, und wird weiter von Abstiegsängsten geplagt.

Wir brauchen ein Gegennarrativ

Der unmittelbare Auslöser dieser Ängste ist – abgesehen von den ihnen zugrunde liegenden strukturellen Problemen wohl vor allem eines: die Flüchtlingskrise von 2015 und die folgende Rechtsdrift der öffentlichen Debatte, eine allgemeine Stimmung der Angst und Sorge zunächst als Auslöser und dann wiederum als Folge des Erfolgs der AfD. Hier fehlt noch immer dringend ein Gegennarrativ, eine andere Erzählung, etwa von Hoffnung und Vertrauen. Denn eigentlich sollte es bei uns keine übergroßen Gründe zur Sorge geben. Wir stehen wirtschaftlich enorm gut da und sind zugleich politisch stabiler als fast alle unsere Nachbarn.

Natürlich werden die globalen Herausforderungen nicht kleiner, und wir sind fern davon, sie optimal anzugehen. Dafür ist der vielleicht nicht einmal wachsende, dabei aber sich zumindest deutlicher als früher zeigende Unmut in der Bevölkerung und der Erfolg der AfD und anderer Rechtspopulisten und autoritärer Nationalisten ein deutliches Symptom. Aber es ist eben nur ein Symptom. Und zwar ein Symptom, das uns Gelegenheit gibt, seine Ursachen zu bekämpfen.

Das wird langsam ja auch getan, wie unbeholfen auch immer. Wenn die neue Regierung sich etwa endlich mehr um die „kleinen“ Leute kümmern möchte, zeigt sie durch genau diese Begriffswahl noch einmal auf, was die Politik eben immer noch von diesen Leuten und einem Großteil der Bevölkerung trennt. Aber sie macht immerhin Anstalten, dieses Problem in den Blick zu nehmen. Schon wesentlich virtuoser versuchen sich inzwischen einige charismatische Abgeordnete darin, längst an die äußerste Rechte verloren geglaubte Begriffe wieder neu zu besetzen, Heimat etwa, aber auch ganz allgemein das Konservative. Und nachdem das erste laute Gepolter und Getöse verklungen war, wurden hier auch gemäßigtere, durchdacht-verantwortungsvollere und breiter anschlussfähige Positionen hörbar, wie etwa die von Winfried Kretschmann.

Was das ganze aber jenseits von politischen Positionen zu bewirken begann, ist eine neue Belebung der politischen Debatte. Was sonst meist eher als verlässliche Einschlafhilfe galt, Bundestagsdebatten (oder gar die Regierungserklärung der Kanzlerin), wird auf einmal viral in sozialen Medien geteilt. Nach einer Dekade des alternativlosen Pragmatismus geht es wieder um was. Es geht um die erst einmal wieder zu beantwortende Frage, wie genau eigentlich unsere Gesellschaft, unser Land, unsere Demokratie aussehen sollen.

Der Kampf um die Deutungshoheit bringt überhaupt erst wieder neue Deutungen und Interpretationen der Welt hervor, die nunmal nötig sind, um die Welt auch sinnvoll verändern zu können. Es geht darum, die gegenwärtigen Verschiebungen und Umbrüche in Gesellschaft und Parteienlandschaft als Krisensymptome anzuerkennen. Aber anstatt dabei stehenzubleiben oder gar eine Apokalypse zu beschwören, gilt es, die Krise als Chance zu begreifen, gerne auch zur Utopie, aber zumindest zu einer mutigen Haltung und Gestaltung der Zukunft.

Willkommenskultur für Hartz-IV-Empfänger?

Wichtig für den Gedanken der Solidarität ist hier aber auch eine Vorstellung von Gemeinschaft und Zusammenhalt. Und was neurechte Bewegungen in reaktionärster Weise wieder auf eine vermeintlich naturgegebene, sogenannte Volksgemeinschaft gründen wollen, weist auch hier darauf hin, dass ein gewisses Gefühl der Zusammengehörigkeit für ein demokratisches Staatswesen tatsächlich von Bedeutung ist.

Vermutlich anders als Horst Seehofer es sich damals noch vorgestellt hat, war es scheinbar paradoxerweise eben die “Willkommenskultur” des Sommers 2015, die gezeigt hat, dass ein solches Gefühl auch ohne Bezug auf eine Volksgemeinschaft möglich ist, dabei aber dennoch einer nationalen Identität zugehören kann. Die Tatsache, dass die “Willkommenskultur” der deutschen Sprache mal wieder einen Exportschlager bescherte, deutet darauf hin. Genauso aber zeigt sie, dass diese Identität nicht national beschränkt bleiben muss, weil sie eben zugleich kosmopolitisch ist.

Die Willkommenskultur hat gezeigt, dass eine universelle Solidarität bei uns möglich ist. Allerdings ist es sicher kein Zufall, dass diese beispiellose Solidaritätswelle sich ausschließlich auf geflüchtete und zugewanderte Menschen bezog, an deren Schicksal wir unseren eigenen Anteil noch einigermaßen gut externalisieren können. Sie wendete sich auch im Nachgang nicht zugleich auf Obdachlose, sanktionierte Hartz-IV-Empfänger oder Langzeitarbeitslose. Denn die sind ja schließlich ganz allein für ihr Schicksal verantwortlich, so wurde es uns einmal eingetrichtert. Und sie hatten doch wohl die gleichen Chancen wie alle anderen im Land auch.

Nun sind wir aber nicht nur als Westen oder Norden für Kolonialismus und auch gegenwärtige postkolonialistische oder andere Konflikte im (nahen) Osten und Süden mitverantwortlich. Auch bei uns wird etwa soziale Ungleichheit über Generationen vererbt, ist eine (wenn auch versteckte) Sockelarbeitslosigkeit finanz-, arbeits-, und disziplinarpolitisch gewollt, und werden wir in ganz und gar nicht ferner Zukunft ohnehin völlig anders über Arbeit und Teilhabe nachdenken müssen. Nur müssen sich diese letzten Tatsachen anscheinend erst noch einmal stärker Gehör verschaffen.

Mit vollen Staatskassen und annähernd Vollbeschäftigung wäre sicher endlich ein guter Zeitpunkt dafür gekommen, an dem niemand mehr Angst davor haben müsste. Und an dem man auch nicht mit „Wer-oder-was-gehört-zu-Deutschland?“-Debatten oder mit der Instrumentalisierung von Symbolen vermeintlicher kultureller Überlegenheit von den eigentlich relevanten Fragen ablenken sollte.

Dieser Text erschien zuerst bei demokratiEvolution.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Tom Wohlfarth

Politische Theorie und Kultur

Tom Wohlfarth

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